laut.de-Kritik

Nur "Doctor Who" wechselt öfter sein Gesicht.

Review von

Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre änderte nur der Doktor in der BBC-Serie "Doctor Who" so oft das Gesicht wie Chelsea Wolfe. Mal Folk, mal Gothic Rock, mal Doom Metal, mal Darkwave, mal etwas ganz anderes. Oft vieles vermischt, mit fließenden Grenzen. Wohin die Reise als nächstes geht, niemand weiß es. Man kann sich nur über zwei Dinge sicher sein: Die nächste Reinkarnation der Kalifornierin trägt zumeist schwarz, und selbst ihre schlechteste Version ist immer noch ziemlich gut.

Zuletzt arbeitete sie mit Tyler Bates am Soundtrack zum Slasher-Film "X", nahm mit Converge "Bloodmoon: I" auf und gründete mit Jess Gowrie Mrs. Piss ("Self-Surgery"). Bei all der Umtriebigkeit liegt ihr letztes Solo-Werk "Birth Of Violence" bereits fünf Jahre zurück. Dieses führte sie teilweise zurück zum Folk ihrer Anfangstage.

Mit "She Reaches Out To She Reaches Out To She" zeigt sie sich so elektronisch wie nie, ohne dabei harte Gitarreneinschläge außen vor zu lassen. Als Inspirationsquellen dienen ihr unter anderem Depeche Mode, Nine Inch Nails, Tricky, Björk, Massive Attack, Radiohead und Lhasa de Sela.

Diese einfach zu kopieren, liegt ihr aber fern. Vielmehr vermischt sie die Atmosphären dieser Acts, verbindet einzelne Fetzen derer und ihrer eigenen Alben "Abyss" und "Hiss Spun" zu etwas Neuem. In Zusammenarbeit mit dem Produzenten Dave Sitek (TV On The Radio), Multiinstrumentalist Ben Chisholm, Gitarrist Bryan Tulao und Schlagzeuger Jess Gowrie wechselt sie zwischen Post-Industrial, Darkwave und Trip Hop.

Die unterschiedlichen Genres bleiben jedoch nur Werkzeuge, mit denen sich Wolfe seit jeher ihren Ängsten stellt. Den Monstern der Nacht, den blutenden Engeln, den Fratzen und dem Stöhnen, die sie aufgrund ihrer Schlaflähmung mit ins Tageslicht begleiten. (Aus eigener kurzzeitiger Erfahrung kann ich sagen: Kein Spaß!) Diese (Alb-)Traumhaftigkeit zieht sich als roter Faden durch sämtliche Alben der selbsternannten Hexe.

Bereits im weniger griffigen Titel "She Reaches Out To She Reaches Out To She" findet sich das Zyklische, das sich durch Texte und Musik zieht. Die Phase der Selbsterkenntnis, der Heilung und des Abschieds vom Ballast, den dieser Phoenix spielende Raabe gerade erlebt. Sie selbst hörte 2021 mit dem Alkohol auf, erlebte, wie eine Freundin sich aus einer langjährigen toxischen Beziehung rettete. Chelsea Wolfe fühlt Hoffnung. Momentan.

Wie das bei ihr klingt, zeigt "Whispers In The Echo Chamber" gleich zu Beginn: "Bathing in the blood of who I used to be / Offering up all my imperfect offerings / Become my own fantasy / Twist the old self into poetry." Eiserne Snare-Schläge, giftiges Bassgrollen und eine Metal-Gitarre, ungewohnt entfernt im Mix versteckt. Die Aggressivität, mit der sie sich dort im Abseits unserer Wahrnehmung aufbaut, lässt sie noch bedrohlicher und den Song noch unberechenbarer wirken. Über all dem thront Wolfes unerforschlicher Gesang.

Jedes Lied auf "She Reaches Out To She Reaches Out To She" funktioniert für sich, das Album aber auch als Ganzes. Das hektische "House Of Self-Undoing" beginnt im Schlagzeughagel, durch den Wolfes Stimme wie der Mond bricht. Ein Arrangement wie nervös zitternde Hände begleitet ihren Weg zur Nüchternheit: "Never wanted to stop (Never wanted) / Reached right into the mouth of the monster (Never wanted)." Für kurze Momente bleibt der Track immer wieder stehen, sucht nach Orientierung, um nur noch unruhiger weiter zu hetzen. Dem Gegenüber steht das von einem dumpfen Klavier bestimmte "Place In The Sun". Fast schon eine Pop-Ballade, wäre es nicht Chelsea Wolfe, würden nicht Kratzer und Scharten das Stück nach unten ziehen. Sogar kleine Erinnerungen an Madonnas "Ray Of Light"-Phase finden sich im Soundbild wieder.

"Everything Turns Blue" begann in der Beobachtung, begleitete die Protagonistin auf ihrem Weg aus einer toxischen Beziehung. Ein bitterer, hypnotischer Weg zur Emanzipation, der sich in die tiefen Gräben des düsteren Tracks frisst. Ächzend schreitet der Beat voran, steigt der Refrain empor. Gegen Ende unterbrechen entfernte Gesänge das Stück, als wolle die Sängerin noch kurz beim Hexensabbat auf dem Blocksberg vorbei schauen. Letztlich half "Everything Turns Blue" auch ihr selbst. "Als ich sah, wie sie diese Trennung durchlebten und lernten, wieder alleine zu sein, begann ich darüber zu schreiben", erklärte sie im Kerrang!-Interview. "Sobald ich es beendet hatte, wurde mir klar, dass ich mich auch in einer Beziehung befand, die ebenfalls sehr giftig war und von der ich mich trennen musste, wenn ich mein authentisches Leben führen wollte."

Aber jetzt bloß nicht zu sehr in neu erlangten Optimismus verfallen. Bereits in "The Liminal" beschwört sie: "Nothing dies, but nothing thrives / In this world.". Ein durchdringender Song, dröhnend, von einer traurigen und in Spinnenweben gehüllten Klaviermelodie begleitet. In dessen Mitte steht die Kalifornierin: "All you ever wanted was the liminal / All you left behind was your exoskeleton / A spectral reminder of all that we've become." Ein ungemein einnehmendes Stück.

Auf "She Reaches Out To She Reaches Out To She" verbindet Chelsea Wolfe geschickt die Einflüsse ihrer Vergangenheit mit neuen Inspirationen und Eindrücken. Ein Album, das sich ebenso aus ihrer Vergangenheit speist, wie es eine neue Gegenwart erschafft. Eine weitere unerwartete Wendung, ein unvermittelter Kniff aus dem Nichts und eines ihrer stärksten Alben.

Trackliste

  1. 1. Whispers In The Echo Chamber
  2. 2. House Of Self-Undoing
  3. 3. Everything Turns Blue
  4. 4. Tunnel Lights
  5. 5. The Liminal
  6. 6. Eyes Like Nightshade
  7. 7. Salt
  8. 8. Unseen World
  9. 9. Place In The Sun
  10. 10. Dusk

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