laut.de-Kritik
Die junge Hamburgerin stößt mit Schwung viele Türen auf.
Review von Philipp KauseWahrscheinlich reichen alle Zutaten dieses Debütalbums tief in die 60er-Jahre zurück, wenn nicht gar einige bis ins 16. Jahrhundert. Trotzdem erklingt hier ein brandneuer Stil, Deckname: 'Gurbet Groove' – Erklärung folgt. Die angehende Musiklehrerin Derya Yildirim strahlt in Interviews und Videoclips stets vor Glück, wohl weil es ihr auf eine Musikerkarriere nicht ankommt und sie etwas zufällig in die berufliche Musikschiene hineinlief – eine Leichtigkeit, die man der Platte "Kar Yağar" durchweg anmerkt.
Ein weiteres Stück vom Glück macht sich daran fest, dass sie eine überfällige, wichtige Aufgabe angeht und meistert: der deutschen Gesellschaft türkische Musiktradition(en) nahezubringen. Doch spielt Derya mit ihrer Grup Simsek keine 'Weltmusik', sondern musikalisches Kauderwelsch, eine einmalige Eigenmarke. Unweigerlich fallen einem beim ersten oberflächlichen Hören Traffic, 60er Jahre-Band von Steve Winwood, die Small Faces, die Woodstock '69-Band Country Joe & The Fish und so manch anderer Psychedelic Rock der alten Schule ein. Aber dieser Sound hier klingt zugleich auch 'anders'. Orientalische Harmonieverläufe fließen ein. Die Bağlama als Folklore-Instrument verfremdet für eurozentrisch geschulte Ohren den Sound - die Moog-Orgel verändert derweil für orientalisch sozialisierte Ohren die teils Musik des alevitischen Liedguts.
Einer der Tracks, ein machtvoll eingängiger Song, "Dom Dom Kurşunu", hört sich nach dem an, was man von Sezen Aksu ein bisschen kennt. Vielleicht mangelt es aber auch einfach an weiteren Referenzen, weil man sie in Deutschland bisher nicht überblickte und die hier Geborenen der "Dritten Generation" türkischer Einwanderer nun auch nicht mehr mehrheitlich damit sozialisiert sind. Das Beispiel beweist es: Geschrieben hat den Titel Aşık Mahzuni Şerif, ein alevitischer Singer/Songwriter. Er starb in Deutschland und wurde doch hier wenig bekannt. Von ihm stammt die erste Version, veröffentlicht 1984 auf dem in Köln gegründeten, mittlerweile in Istanbul befindlichen Label Türküola, das nur noch sporadisch etwa mit der Sängerin Petek Dinçöz aktiv ist. Aber der harte, groove-rockige Sound des Schlagzeugs in "Dom Dom Kurşunu" würde genauso zur Steve Miller Band passen. Der sehnsuchtsvolle Gesang der jungen Hamburgerin Derya und die verwaschenen, lautmalerischen Background-Vocals, die sie zusammen mit den Herren ihrer Band formt, platzen schier vor Expressivität. Diese Newcomer transportieren eine Mission - das wird klar, auch wenn man kein Wort versteht. "Bir Kardesim" präsentiert sich als überwiegend akustischer Liedermacher-Rock mit Moog-Orgel-Bausteinen, und verspielten psychedelischen Melodie-Verfremdungen.
Der nächste Track nimmt Melodieteile dieses Stücks wieder auf und variiert sie mit der Querflöte des Bandmitglieds Antonin Voyant und einer seltsam eingebauten Rede, gesprochen von Deryas Papa. Jetzt gelangen Derya & Grup Şimşek beim Sound des britischen Harvest-Labels und dem Brit-Folk-Revival der späten 60er an. Verträumt ist gar kein Ausdruck für manche der instrumentalen Passagen. Zum Ausgleich eröffnet "Ey Şahin Bakişlim" fast a-capella. Derya lässt ihre Stimme durch ein Effektgerät ziehen. Der einsetzende Sound der Band klingt wie ein wildes Konglomerat aus Balkanbeats, Gnawa-Musik, Jethro Tull, Joe Bonamassa und immer einem Schwung türkischem Pop der 70er.
Die Melodien betören. Die melancholischen Vocals dringen beim Hören ein und setzen weder Türkischkenntnisse noch Kulturwissen über die Türkei voraus. Den ursprünglichsten aller Synthesizer-Modelle des Herrn Robert Moog in die Gegenwart zu übertragen, versuchen 2019 wirklich viele Bands – hier fährt der Organist, Graham Mushnik, äußerste Versiertheit auf.
Das Album referiert auf englische wie auch türkische Linien der Musikgeschichte, ohne schulmeisterlich zu wirken. Ohne gezwungen Dinge zu verknoten, die eben verschieden sind, macht Derya Yıldırım keinen "Anatol-Rock". Denn dass das Alte so frisch klingt, darin stecken der Witz und das Ausgereifte dieser Platte.
Diese Musik, kann man daraus bereits schließen, tönt also anders als ein Sampler der Bundeszentrale für Politische Bildung es tun würde, und doch ist sie ein Beitrag zur politischen Bildung und eine große integrative Leistung. "Oy Oy Emine", ist etwa ein Volkslied ohne Verfasser, ein Stück anonymer Herkunft. Derya kennt sich mit manchen Musiktraditionen aufgrund ihres Studiums aus, und somit auch mit den Instrumenten; sie selbst spielt die Saz-Laute, auch genannt Bağlama. Dieses Saiteninstrument der alevitisch-türkischen Folklore durchtränkt sehr tief den Titelsong "Kar Yağar". Rhythmisch liegt hier auch ein südosteuropäischer Tanz zugrunde, sodass das Ganze garniert mit den Rock-Drums von Schlagzeugerin Gretta Eacott eine faszinierende Ausstrahlung hat.
Eine verheißungsvolle Zeitreise in die Folk-Rock-Harmonien der späten 60er Jahre in einem seltenen 5/4-Takt beschert das so heitere wie tiefsinnige "Üç Kiz Bir Ana". Darin hat die Moog-Orgel einen großen Auftritt, und Deryas Gesang fügt sich super ein. Obwohl sie das Brüchige in der Stimme erzeugt, das zu türkischer Volksmusik wohl dazu gehört, klingt Derya Yilidirim auch ein bisschen wie Jefferson Airplanes Grace Slick: Sie stellt den Text ganz trocken in den Raum, klingt wie von Ferne dazu geschaltet. Die Instrumentierung trägt ganz ohne Gesang das zweite Stück "Kürk", bisher eines der interessantesten Instrumentals des Jahres 2019 und komponiert vom Organisten. Die E-Gitarre wabert verzerrt und positioniert das Album klar auf dem Alternative Rock-Markt.
Deryas Gesangsausdruck wirkt so fantastisch und mächtig, dass es auch ihren vier Bandkollegen nichts ausmacht, die türkischen Texte nicht zu verstehen. Und dabei sind diese Texte gehaltvoll und tiefsinnig. Manche der Lyrics handeln vom Widerstand gegen die Unterdrückung der Folk-Traditionen seitens des Staates. 'Gurbet Türküleri' bezeichnet 'Lieder für im Ausland lebende Türken'. Das Wort datiert in die 1970er Jahre. Es verweist darauf, dass Exil-Musik oft etwas Schwermütiges an sich hat und die Lieder verschiedener Autoren oft gemeinsame Themen haben.
"Seni Hala", der am ernstesten anmutende Tune, ein Akustiksong, den man für alten Folk halten könnte, stammt gerade nicht aus der Vergangenheit. Er ist eine Komposition von Yildirim und dem Gitarristen des Italo-Londoner Punk-Trios Pissinboy, Andrea Pirovano. Überhaupt führt Derya sehr leichtfüßig vor, wie Europa wirklich zusammenwachsen kann. Ihre Bandmitglieder leben in England, Frankreich, Schweden und Italien und gehören verschiedenen Nationalitäten an.
Trotz der Leichtfüßigkeit umflort die Platte durch die Melodien wie "Dom Dom Kurşunu" und "Üç Kız Bir Ana" etwas sehr Anrührendes. "Üç Kız Bir Ana" führt zu einem Gedicht Kurbani Kılıçs zurück. Ein Schafhirte liegt im Sterben und schickt seine Frau und seine drei Töchter los, die Herde zu beaufsichtigen. Der Song nimmt die Perspektive der Frauen ein, die auf den Familienvater warten und hoffen, dass er zu ihnen stößt, ahnend, dass er bei ihrer Rückkehr wohl schon verstorben sein wird.
Darüber hinaus gibt es eine groovige Seite an diesem Album zu entdecken. Es macht Spaß zu hören, wie diese Mittzwanziger eine Musik zum Leben erwecken, die lange vor ihrer Zeit aktuell war und wie ihnen dies richtig gut gelingt. "Kar Yağar" (zu Deutsch: "Es Schneit") überzeugt nicht nur als vollendeter Gag. "Kar Yağar" schließt nun einen 'Missing Link' für Musikinteressierte und könnte auch nach 20 Jahren noch als Meilenstein des Indie-Rock gelten. Denn meistens verharren Alben aus den Segmenten Psychedelic, Orient-Pop, Folk und World Groove isoliert in ihren jeweiligen Subkulturen. Diese Platte stößt mit Schwung viele Türen auf.
3 Kommentare
Noch keine Einschätzung vom Anwalt? Ich bin empört!
Mal was anderes, auch wenn ich kein Wort verstehe
Fantastische Platte!