laut.de-Kritik
Nebenher hören ist hier zum Scheitern verurteilt.
Review von Yan VogelEins vorweg: Die Musik ist auf "The Astonishing" grandios in Szene gesetzt und die Band brilliert auf einem gewohnt virtuosen Level. Die Vielfalt an Stilen fällt enzyklopädisch, fast schon gigantomanisch aus. Die Produktion rangiert im oberen Klassement des Genre-Standards. Orchester und Chor funktionieren als eigenständige Komponenten, sind perfekt in den Mix eingebunden und tragen erheblich zum Funktionieren des Konzepts als sinnhaftes Ganzes bei. Hier haben John Petrucci und Jordan Rudess als Hauptsongwriter gemeinsam mit Produzentenlegende Dave Campbell als Arrangeur ganze Arbeit geleistet.
14 Jahre nach Scenes From A Memory präsentieren uns die New Yorker ein weiteres Konzept-Album, und eins steht jetzt schon fest: Man muss sich mit der Scheibe mönchisch beschäftigen. "The Astonishing" et labora, sonst nix. Nebenher hören scheint zum Scheitern verurteilt. Die Allmacht der Algorithmen vs. die Spontaneität kreativer Spannung als Grundkonflikt dient als Basis für das in ferner Zukunft spielende dystopische Setting.
Als Dream Theater-Hörer seit zwanzig Jahren habe ich mittlerweile viele Phasen mit- und teilweise auch durchgemacht. Die technisch-anspruchsvolle, aber stets melodische, mit einem Hang zum Pathos angelegte Musiksprache muss man mögen.
Endlich bewegen sich die New Yorker aus ihrer seit Jahren lieb gewonnenen Komfortzone heraus, beweisen Mut und begeben sich auf eine Reise ins Unbekannte. Entsprechend viele Herzen schlagen in meiner Brust. Vier Hörer-Naturen melden sich nun zu Wort, jeder mit seiner eigenen Perspektive auf das sich vor ihm auftürmende 130-minütige Geschehen, das eine Sonderstellung im Backkatalog einnehmen dürfte. Vorhang auf für die Protagonisten.
Der Enttäuschte
Es gibt den schönen Satz: Der Trainer erreicht die Mannschaft nicht mehr. So verhält es sich bei DT und ihren Fans. Sie machen mittlerweile Musik aus einer professoralen Perspektive. Es gibt einen Kanon, der treffend mit gutbürgerlich umschrieben werden kann. Darin gehören die klassisch-romantische Musiksprache, ein paar anglo-amerikanische Folk-Elemente, Musicals sowie das Lieblingskind des intellektuellen Musikhörers, der Progressive Rock und meinetwegen, da Lemmy im Feuilleton gewürdigt wird, auch Metal.
Dann muss es eine Rock-Oper sein, mit allem was dazugehört: Ouvertüre mit Themenexposition, zwei Akte und viel Dramatik. Bei aller Fokussierung auf die Story bleibt für mich die Frage, ob das alles zusammenpasst. Ich glaube nicht. Die Story muss als Ausrede für die musikalischen Sprünge herhalten und bleibt somit fragmentarisch. Elektronische Musik wird stiefmütterlich behandelt und im Fall der fünf Drone-Interludes als Kakophonie dargestellt. Für mich als geschichtsbewussten Musikhörer ein No-Go. Das schöngeistige Geklimper vom Rudess geht mir auch auf den Sack. Der soll lieber die Synthesizer anwerfen. Petruccis Solos kann man an einer Hand abzählen und das bei 34 Songs. Unverzeihlich.
Der Berauschte
"The Astonishing" verkörpert für mich pure Schönheit. Die schwelgerischen, engelsgleichen, weltumspannenden Melodien lassen niemanden kalt. Sicher, das wirkt bombastisch und pathetisch, aber es klingt absolut authentisch. Man führe sich nur "When Your Time Has Come", "Act Of Faythe", "Chosen" oder das von "The Walking Shadow" bis zu "Astonishing" erstreckende Finale zu Gemüte.
Das berührt mich immens und verkörpert den Hauch der Unendlichkeit, den wahre Musik verströmt. Dabei kommt die Musikalität nicht zu kurz. Die Tempi werden variiert, es tauchen überraschende Harmonien auf wie in "A Tempting Offer" und auch die Instrumentation birgt immer wieder überraschende Elemente wie Bluegrass-Blast-Beats, Orchester- und Chor-Passagen, Dudelsäcke, Tango-Rhythmen oder Folk-Instrumente. "Scenes From A Memory" musste schon keine Vergleiche mit den großen Konzeptwerken der Musikgeschichte scheuen. "The Astonishing" wächst mit jedem Hören und eine Grenze scheint nach etlichen Durchläufen nicht in Sicht.
Der Traditionalist
Quatsch, das ist alles reiner Klimbim. Mich dünkt der Alte spricht im Fieber, bei all dem geistigen Dung. Das klingt mir zu sehr nach der Weihnachts-CD von Udo Jürgens. Das mag gutes musikalisches Handwerk sein, bringt aber allenfalls meine Oma zum Nicken. Wohl eher zum Einnicken.
Die Band, die mit den ersten fünf Alben meine Seele berührte, bespielt ein paar Allgemeinplätze und dort wo wirklich Geniales entstehen könnte, wie in den ersten Minuten von "A Live Left Behind", geht man direkt wieder in einen langsamen, austauschbaren Jammer-Teil über. Ein paar Momente besitzt die Scheibe zweifelsohne: "Lord Nafaryus" ist freaky und mitreißend, "A New Beginning" und "Moment Of Betrayal" klassischer DT-Stoff, wie ich ihn mag, und die Ohrwürmer "The Gift Of Music" und "Our New World" gehen auch in Ordnung.
Der Überraschte
Klar klingt die Musik auf den ersten Höreindruck fragmentarisch. Der Grund dafür ist die Story. Sie gibt im wahrsten Sinne den Ton an. Die Twists und Turns sowie die Charaktere zeichnen Petrucci und Co. entsprechend differenziert. Dies geht zu Lasten einer unmittelbaren Musikwirkung. Aber darauf haben es DT sowieso noch nie angelegt. Die Stimmung wechselt minutiös, einzig die elegischen Passagen kommen auf eine gewisse Länge. An die Hörspielelemente muss man sich gewöhnen. Diese Einspielungen tragen jedoch erheblich zur Illustrierung von Kernelementen der Story bei.
Eine Geschichte über die Wirkung von Musik ist originell und der Ideenmix aus "Jesus Christ Superstar", "Star Wars" und "Game Of Thrones" reißt mit. Hervorheben muss man auf jeden Fall Sänger James LaBrie. Dessen Timbre sorgt für einen hohen Wiedererkennungswert. Wie er die Stimmungen und Charaktere mit einer Vielfalt an Einfühlungsvermögen und grandioser Gesangstechnik zum Leben erweckt, nötigt mir Respekt ab und trägt maßgeblich dazu bei, dass "The Astonishing" als Konzept funktioniert. Oder?
22 Kommentare mit 25 Antworten
Das letzte DT-Album, das ich gehoert habe, war 'Train of Thought'. Aber schoene Rezi hierzu.
Nicht der schlechteste Zeitpunkt, um auszusteigen. So hast du dir eine ganze Menge mittelmäßiger Alben erspart.
Ditto.
Aber LaBrie hervorzuheben zeugt auch davon, dass Petrucci keine Ideen mehr hat.
bin grad beim ersten Hördurchlauf von CD1, und das hier aufgeführte Review entspricht meinen ersten Eindrücken zu 100% - top!!
Bei dir gilt also: "Rezension bestätigt meine Meinung" = "Rezension ist gut"? Das tut so weh.
Der tat gut, was Santi!?
Logisch!
dann findest du das Album auch mittelmäßig Metalmeier?
Wer hat eigentlich das Gerücht aufgebracht, LaBrie sei ein GUTER Sänger? Ist er auf der CD schon damit überfordert, den vielen Charakteren einen spezifischen Ausdruck zu verleihen, versagt er live völlig. Es gibt nur zwei Agregat-Zustände: "wispern, hauchen" (Ballade) und "kreischen mit Schlußtremolo" (der Rest). Besonders peinlich wird es, wenn er mit einem Glissando versucht, in die Höhe zu kommen, den letzten Ton herauspreßt, um doch das berühmte Achtel unter dem Gipfel zu bleiben. Wenn dann noch die zweite Stimme aus der Konserve kommt und er sowohl im Metrum als auch in der Frequenz danebenliegt, fängt bei mir das Fremdschämen an.
Überhaupt Konserve. Aus selbiger kommt live ein ganze Menge, vor allem Cello und Violine, aber auch Gesang und Keyboards. Da Rudess das Keyboard zum Publikum neigen kann, ist schön ersichtlich, was zwar zu hören ist, aber keinsfalls von ihm in diesem Augenblick gespielt wird. Die Rechte brilliert im Solo, die Linke an den Wheels und getragen werden sie von seinen berühmten Layer-Sounds. Woher diese kommen, bleibt offen.
Sie bieten eine bombastische Show, sind aber inzwischen selbst zu den Sklaven der Musikmaschinen geworden. Die Lightshow hat berauschend schöne Momente, die Animation kann nicht mithalten (in jedem Ballerspiel ist mehr Mimik)und ich war dann lange vor dem Ende satt, reizüberflutet und müde. (Frankfurt, 15.3. Alte Oper)
Zur Ohr-Eichung nochmal SFAM aufgelegt und lächelnd festgestellt, wie gut DT sein können und daß das Neue nicht automatisch das Bessere ist.
Du hast ja so recht - gleiche Meinung - Konzert war gruselig - als der Gesang tatsächlich vom Band kam, anstatt dass die Kollegen aushelfen, war ich platt...
Seit einem Jahrzehnt bin ich nachgeholter Dream Theater- Fan und trotzdem bin ich mit jedem weiteren Album nur immer enttäuschter. Wo ich dachte, dass beim Album "Dramatic Turn of Events" die überpathetische, aber überhaupt nicht tiefgründige Kitschigkeit der Texte einen Höhepunkt erreicht hatte, setzen DT bei ihrer neuen Rock-Oper vor allem neue Maßstäbe in Zahnschmelz vernichtender Schnulze. Und das sage ich als jemand, der bei zahlreichen Alben noch beide Augen zugedrückt hat über äußerst ausgelutschte Botschaften ala "Carpe Diem", "Liebe ist stärker als der Tod", "Sind die Freimaurer nicht echt cool und mysteriös?" und zu guter letzt "Kennt ihr schon die Geschichte, als ich Hannibal Lecter begegnet bin, der am Ende gar nicht Lecter war?" (Count of Tuscany)
Als ich dann heute das neue Album beim ersten Blick auf die Rückseite als Konzeptalbum identifizierte, rechnete ich also mit dem Schlimmsten. Und tatsächlich: Die Geschichte hat mich an so gut wie keiner Stelle irgendwie überzeugt und dennoch triefte sie vor schmachtenden Liebes- und Leidbekundungen. Die Charakterpsychologie, obwohl die in Opern ja immer recht übertrieben dargestellt wird, ist dabei ebenso lächerlich. Ein paar Beispiele:
1. Als man den Klischee-Imperator überzeugen will, die Unterschicht doch bitte nicht mehr zu versklaven und sich doch mal mit dem Rebellen-messias zu treffen, dient ein SciFi-Mp3-Player, den die Tochter im Palastgarten gefunden hat, als Überzeugungsmittel. Daddys alter Flashdrive, so stellt sich heraus, macht den Herrn nostalgisch, weshalb er alle politischen Prinzipien über den Haufen wirft. Noch nicht weit hergeholt genug?
2. Dem Bruder des Protagonisten wird ein Angebot gemacht: Verrate deinen Bruder und die Rebellion, die du leitest, und im Gegenzug darf dein Sohn sein restliches Leben im Palast Pralinen mampfen. Dass die Revolution der Beseitigung der zwei-Klassen-Gesellschaft dienen sollte, wird da schnell mal vergessen. Hauptsache der eigene Wonneproppen hat's gut, damit die durch den Krieg gestorbene (!) Mutter und Ehefrau wenigstens ihren Todeswunsch erfüllt bekommt, dass es Söhnchen gut ergehen wird. Also Kopf ab beim Bruderherz - oder doch nicht? Kurzfristig entscheidet sich der Rebellenführer wieder um und stirbt beim Versuch, es wieder glattzubügeln.
3. Sowohl der Bruder als auch die "Geliebte" (aber de facto Unbekannte) des Protagonisten liegen blutend am Boden - dem Bruder trauert man nicht lange nach, stattdessen gilt es, sich in plötzlich versammelter Dorfmannschaft der magischen Wunderheilung (!) der ausblutenden Geliebten durch Chorgesang zu widmen. Der Bruder kann schön weiterbluten.
4. Jetzt, da die neue Fickschnitte wieder lebt, verzeiht man ihrem Angreifer und dem nach-wie-vor-Mörder des Protagonisten-Bruders. Begründung: Er war halt verwirrt, und jetzt ist ja immerhin der Imperator durch sinnlose Gewalt zu Verstand gekommen. Dass der Angreifer mit der Schuld leben muss, sowohl seine eigene Schwester beinahe getötet, als auch den Bruder ihres neuen Freundes abgemurkst zu haben, wird nicht weiter erwähnt.
Und das sind nur die auffälligsten Schwachsinnigkeiten, bei denen ich beim grundlegenden Plot den Kopf schütteln muss.
Aufgefüllt wird der inhaltlich wertlose Stuss zwischen Hunger Games und Game of Thrones mit viel innerem Monolog und jeder Menge altbekannter Floskeln: Liebe > Tod, Musik siegt über Gewalt und natürlich das Mantra des Durchschnitsamerikaners: Freiheit ist wichtiger als das eigene Leben! Der übliche DT-Schund, über den ich bei einer schlüssigen Geschichte vielleicht hinweggesehen hätte.
Musikalisch ist vor allem der erste Akt 'underwhelming'. Es gibt viele Experimente, aber kaum eingängige Melodien oder interessante progressive Elemente. Wenigstens hat man sich inzwischen von Rudess' billigem Synthieorchester verabschiedet und verwendet jetzt ein echtes. Für mich, der gerne Klassik hört, ist das meiste aber wertloses Gedudel - vielleicht Geschmackssache.
Petrucci baut kaum Solos ein, die dann für ihn nichts besonderes sind und zudem an den falschen Stellen einsetzen, an denen die Stimmung eigentlich kein Solo braucht. Zumindest im zweiten Akt gibt es einige eingängige Refrains und ein paar interessante neue Instrumente. Enttäuschend ist aber, das Rudess nicht nur die schlechten Midi-Orchester, sondern seinen Synthesizer fast komplett aus dem Spiel lässt, wenn er nicht gerade ein Unisono mit Petruccis Gitarrensolo spielt. Stattdessen gibt es 4 einminütige "Krach-Songs", die eher klingen, als hätte Rudess ein neues Effektgerät im Musikladen ausprobiert.
Zum Schluss noch etwas Gutes: Es gibt tatsächlich ein paar Gänsehautmomente, die man sich durch viel Mitlesen im Booklet und viel Mitdenken im irrsinnigen Plot gleichsam erarbeiten muss. Einige Passagen klingen wirklich wunderschön oder haben sehr spannende Beats und Rhythmen, werden dann aber wieder von Gedudel abgelöst. Der Plot kann bei halb zugekniffenden Augen tatsächlich hin und wieder bewegen, aber diese Momente konnte ich an einer Hand abzählen. Für mich wirklich eines der schlechtesten Alben von DT, obwohl ich die Idee des Konzeptalbums der Rock-Oper sehr begrüße und das Setting vielversprechend wirkte. 5/10
Tja wie heißt es so schön: Dream Theaters größten Fans, sind ihre krassesten Hater.
Ach ja, das Album und die Live Darbietung sind ja wohl nur geil.
Keine Sorge, das wächst sich aus.