laut.de-Kritik

Wegweisender Lärm der Krautrock-Revoluzzer.

Review von

Faust revolutionierten mit ihren experimentierfreudigen, querköpfigen Klängen Anfang der 70er Jahre in nur vier Jahren die Musikgeschichte. Fünfzig Jahre nach Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debüts erscheint nun mit "Faust 1971-1974" ein umfassendes CD- und Vinyl-Boxset, das neben den ersten vier Studioalben der Hamburger Archivmaterial, zwei 12"-Singles sowie das bis heute unveröffentlichte Album "Punkt." enthält.

Alles begann Ende der 60er, als das Label Polydor den Journalisten und Musikmanager Uwe Nettelbeck beauftragte, ein bundesdeutsches Gegenstück zu den Beatles zu finden. Dafür scharte er mit Jean-Hervé Péron (Bass), Rudolf Sosna (Gitarre), Gunther Wüsthoff (Saxofon), Hans Joachim Irmler (Keyboard), Arnulf Meifert und Werner "Zappi" Diermaier (beide Schlagzeug) sechs Musiker aus zwei verschiedenen Hamburger Bands um sich und ermöglichte ihnen einen Plattenvertrag.

Mit der Single "Lieber Herr Deutschland" befindet sich auch das Demo in der Box, das die Plattenfirma dazu brachte, Faust unter ihre Fittiche zu nehmen. Das klang so rein gar nicht nach den Beatles, rezitierte doch die Band zu wilden Gitarren- und repetitiven Schlagzeugklängen die Bedienungsanleitung einer Waschmachine, nur um dem Hörer danach unverdauliche Klangcollagen zu kredenzen. Warum Polydor das viel hippieeskere "Baby", das man als B-Seite noch dazubekommt, ablehnte, bleibt wohl deren Geheimnis.

Kurz darauf fand sich die Formation zusammen mit Nettelbeck und Toningenieur Kurt Graupner in einem eigens für sie eingerichteten Studio in einem ehemaligen Schulgebäude an der niedersächsischen Wümme wieder. Dort brütete die Band einen Sound zwischen The Velvet Underground, Frank Zappa, Dada, 60s-Pop- und -Rock sowie Cut-Up-Collagen aus, der sich alles andere als gut vermarkten ließ.

Das selbstbetitelte Debüt (5/5) bündelte Beatles- und Stones-Zitate, schräge Bläsersätze, schiefe Gesänge auf Englisch und Französisch, ausufernde Psychedelik-Töne, elektronische Störgeräusche, Tape-Manipulationen, Gesprächsfetzen, klassische Piano-Sounds, jazzige Polyrhythmen, tiefste Grabesorgeln und noch vieles mehr zu drei Klangcollagen, die in ihrer für Rockmusik-Verhältnisse beispiellosen Radikalität stark auf spätere Musikgenerationen einwirkte. Hierzulande ignorierten Musikkritiker und Plattensammler das Album zunächst.

In einem Interview für Christoph Dallachs Buch "Future Sounds bezeichnete Stephen Morris von New Order das Werk als "eine Art Gegenteil von allem, was die Rolling Stones, Beatles und Konsorten" damals "so machten". Zudem sei "Faust" "die erste Krautrock-Platte" gewesen, die bei ihm "tatsächlich einen bleibenden Eindruck" hinterlassen hatte.

Nach den Aufnahmen zu "Faust" warf Meifert das Handtuch, so dass die Band zu fünft weitermachte. Das zweite Album "So Far" (5/5) kam 1972 auf den Markt und hatte kompaktere Songstrukturen als das Debüt zu bieten, ohne dass es an radikalen Momenten mangelte. Vor allem das von repetitiven Gitarren- und Schlagzeugklängen durchzogene Titelstück, über die elektronische Töne schwirren, steht für die zugänglichen Qualitäten der Platte. Es erschien sogar als Single in einer etwas sphärischeren, aber nicht weniger interessanten Variante, die ebenso Eingang in dieses Boxset findet. Als B-Seite hört man mit "It's A Bit Of A Pain" den akustisch geprägten Abschlusstrack von "Faust IV", der mit allerlei Störgeräuschen aufwartet.

Visionäres wie auf dem Debüt gab es auch auf "So Far" reichlich. "No Harm" beginnt als jammiges Psychedelik-Stück, wandelt sich aber zu einer dissonanten Krachorgie mit durchgeknalltem Gesang und einem noch durchgeknallteren Dada-Text ("Daddy, take a banana / Tomorrow is sunday."). "Mamie Is Blue" bildet eine düstere Soundcollage, die in ihrer Härte Industrial vorwegnimmt. Dieser Sound rief nach und nach britische Musikjournalist*innen, darunter John Peel, auf dem Plan, die das wegweisende Potential der Band erkannten.

Und dann war da noch Uwe Nettelbeck, der dem britischen Manager Richard Branson von Virgin die Hamburger als die neuen Beatles andrehte. Zudem überredete er die Band, mit dem US-amerikanischen Minimalisten Tony Conrad das gemeinsame Kollaborations-Werk "Outside The Dream Syndicate" einzuspielen, das dem Boxset nicht beiliegt, und hinterließ der Plattenfirma mit "The Faust Tapes" (4/5) einen Zusammenschnitt aus Überresten alter Wümme-Sessions als drittes Studioalbum. Das kam ebenso wie die gemeinsame Platte mit Tony Conrad 1973 auf den Markt.

Dass die Klänge zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, merkt man den Tapes auf jeden Fall an. Es gibt abgebrochene Songs, vergeigte Soli, kurze Fingerübungen an den einzelnen Instrumenten, wirre elektronische und psychedelische Sound-Experimente, dilettantische Gesangseinlagen und mit "J'ai Mal Aux Dents" zwischendrin ein Song, der mit minimalistisch krachiger Gitarrenarbeit und kratzbürstigem Sprechgesang schon beinahe sowas wie die Blaupause für den späteren Noise-Rock lieferte. Sowas wie einen roten Faden erkennt man dabei nicht, aber gerade dieses Unstrukturierte und Chaotische macht den besonderen Charme des Albums aus.

Das bot Virgin zum Preis einer Single (49 Pence) an, was sich auszahlte, gingen die Tapes in UK doch über fünfzigtausend Mal über die Ladentheke. In England nahmen die Hamburger dann auch "Faust IV" (4/5) auf, das ebenfalls 1973 erschien und mit dem sie im Grunde dort weitermachten, wo sie mit "So Far" aufhörten. Die Genrebezeichnung, mit der Virgin fortan Rockmusik aus Deutschland in Großbritannien vermarkten sollte, lieferte der lärmige, aber trotzdem mitreißende Opener "Krautrock" gleich mit.

Demgegenüber schlugen Faust mit einer Nummer wie "Jennifer" ungewohnt zarte und filigrane Töne in Anlehnung an ruhige The Velvet Underground-Songs an. Allerdings loderte das kreative Feuer in der etwas monotonen zweiten Hälfte nicht mehr so hoch wie zuvor. 1974 quartierte sich die Band in Giorgio Moroders Münchner Musicland Studios ein, um das fünfte Album "Punkt." (4/5) einzuspielen, allerdings unter dem Vorwand, dass Virgin die Kosten für die Aufnahmen übernehmen würde. Am Ende flog der Schwindel auf und die Bänder durften nicht veröffentlicht werden.

Gut, dass man nun doch noch in den Genuss dieser Platte kommt, liegt die Betonung in Stücken wie "Morning Land" und "Knochentanz" doch mehr auf der Rhythmik und dem repetitiven Charakter als zuvor und zeigt ein Track wie "Schön Rund", dass aus Faust auch eine gute Avantgarde-Jazz-Combo hätte werden können. Jedenfalls bereichert "Punkt." das Gesamtwerk der Hamburger zu Beginn der 70er um eine Menge interessanter Facetten.

Das lässt sich von den beiden Alben "Momentaufnahme I" und "Momentaufnahme II" (beide 3/5), die sich aus unveröffentlichtem Material zusammensetzen, das noch an der Wümme entstand, nicht unbedingt immer sagen. Die halten ähnlich wie "The Faust Tapes" allerlei Obskures zwischen Klangkunst und Nonsens bereit, ohne den chaotischen Charme der '73er-Veröffentlichung zu erreichen. Trotzdem lohnt bei allem Materialüberschuss das genauere Hinhören, denn "Interlude 18. Juni" nimmt mit knisternden Sounds das vorweg, was man Jahrzehnte später Clicks & Cuts nennt. "Lampe An, Tür Zu, Leute Rein!" hat mit langgezogenen Drones etwas überaus Horrorartiges.

1975 zog sich schließlich Nettelbeck als Manager zurück, um sich bis zu seinem Tode der bibliophilen Kulturzeitschrift "Die Republik" zu widmen. Um die Hamburger Band wurde es lange still. Erst Anfang der 90er-Jahre fanden sich drei von fünf Mitgliedern für Liveshows wieder zusammen. Seitdem erscheinen in loser Abfolge neue Studioalben in unterschiedlicher Besetzung, die einerseits nahtlos an das Frühwerk anschließen, andererseits aber auch zeitgemäße Gefilde streifen. "1971-1974" belegt eindrücklich, dass Faust ihrer Zeit um Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte voraus gewesen sind.

Trackliste

Faust

  1. 1. Why Don't You Eat Carrots?
  2. 2. Meadow Meal
  3. 3. Miss Fortune

So Far

  1. 1. It's A Rainy Day Sunshine Girl
  2. 2. On The Way To Abamäe
  3. 3. No Harm
  4. 4. So Far
  5. 5. Mamie Is Blue
  6. 6. I've Got My Car And MyTV
  7. 7. Picnic On A Frozen River
  8. 8. Me Lack Space…
  9. 9. …In The Spirit

The Faust Tapes

  1. 1. Several Hands On Our Piano
  2. 2. Don't!
  3. 3. Flashback Caruso
  4. 4. Voices And Trumpet And All
  5. 5. J'ai Mal Aux Dents
  6. 6. Beim Nächsten Ton Ist Es…
  7. 7. Two Drums, Bass, Organ
  8. 8. Schwitters Intro
  9. 9. Several Hands On Our Piano (Continued)
  10. 10. Beam Me Up, Scotty
  11. 11. Elerimomuvid
  12. 12. Schwitters (Continued)
  13. 13. Have A Good Time, Everybody
  14. 14. Above And Under Our Piano
  15. 15. Hermanns Lament
  16. 16. Donnerwetter
  17. 17. Was Ist Hier Los?
  18. 18. Rudolf Der Pianist
  19. 19. Ricochets
  20. 20. I've Heard That One Before
  21. 21. Watch Your Step
  22. 22. Under Our Piano Again
  23. 23. Fluid Chorus
  24. 24. Stretch Out Time
  25. 25. Der Baum
  26. 26. Chère Chambre

Faust IV

  1. 1. Krautrock
  2. 2. The Sad Skinhead
  3. 3. Jennifer
  4. 4. Just A Second / Picnic On A Frozen River, Deuxième Tableau
  5. 5. Giggy Smile
  6. 6. Läuft… Heißt Das, Es Läuft Oder Es Kommt Bald?… Läuft!
  7. 7. It’s A Bit Of A Pain

Punkt.

  1. 1. Morning Land
  2. 2. Crapolino
  3. 3. Knochentanz
  4. 4. Fernlicht
  5. 5. Juggernaut
  6. 6. Schön Rund
  7. 7. Prends Ton Temps

Momentaufnahme I

  1. 1. Naja
  2. 2. Flaflas
  3. 3. Es Ist Wieder Da
  4. 4. Mechanika
  5. 5. Weird Sounds Sound Bizarre
  6. 6. Karotten
  7. 7. RéMaj7
  8. 8. Fin De Face
  9. 9. Vorsatz
  10. 10. Acouphènes
  11. 11. Interlude 18. Juni
  12. 12. Dadalibal
  13. 13. Bonne Soupe Au Fromage
  14. 14. Rückwärts Durch Die Drehtür

Momentaufnahme II

  1. 1. Danach
  2. 2. Gegensprechanlage
  3. 3. Lampe An, Tür Zu, Leute Rein!
  4. 4. Purzelbaum Mit Anschubsen
  5. 5. Tête-à-Tête Im Schredder
  6. 6. Dampf
  7. 7. Testbildhauer
  8. 8. I Am… An Artist
  9. 9. Wir Wollen Mehr Volumen Kriegen
  10. 10. Arrampicarsi Sul Vesuvio
  11. 11. …und Alles Durcheinander
  12. 12. The Fear Of Missing Out
  13. 13. Ma Trompette
  14. 14. As-tu Vu Mon Ombre?

Singles

  1. 1. Lieber Herr Deutschland
  2. 2. Baby
  3. 3. So Far (Single Version)
  4. 4. It's A Bit Of A Pain

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