laut.de-Kritik
Riskant und unberechenbar: ein stilles Meisterwerk.
Review von Philipp KopkaAuf Hoffnung folgt Verzweiflung. Der Vorfreude weicht die Enttäuschung. Liebe schlägt um in Hass. Für immer schienen die Anhänger gefangen in Extremen. Und Frank Ocean? Der machte nichts. Mimte den Puppenspieler, der die Gefühlswelten seiner Fans mit nur einem Hashtag von tiefster Depression in himmlische Euphorie katapultieren konnte. Was er auch tat. Immer und immer wieder.
Um sich der Hysterie um den "Channel Orange"-Nachfolger gewahr zu werden: Hunderttausende starren eine Woche lang gebannt auf ihre Laptops. Auf den Bildschirmen flackert ein Livestream aus der Nähe von Los Angeles. Zu sehen ist eine spärlich eingerichtete Lagerhalle, ab und an spaziert Mr. Ocean ins Bild und ... schreinert. Eine Wendeltreppe.
"Wo bleibt das verdammte Album?!" Die Twitter-Timeline explodiert vor erbosten Fanbotschaften. In einem Forum hecken Verzweifelte gar den (hoffentlich) nicht ganz ernst gemeinten Plan aus, Oceans kleinen Bruder zu entführen, um die Veröffentlichung des Albums zu erpressen.
Auch nach vier Jahren scheint die Gier nach neuem Material des Sängers grenzenlos – und beweist damit die Bedeutsamkeit des großartigen "Channel Orange" für Fans und Musikwelt gleichermaßen. Das treffend betitelte Visual-Album "Endless" läutete noch mal die Hype-Glocke, dann war es auf einmal da: Statt "Boys Don’t Cry" heißt das Album jetzt "Blond(e)".
Frank Oceans Zweitling schreit nicht laut "Hallo, hier bin ich!", sondern legt sich still und leise neben dich und lullt dich ein, bis du nicht mehr loslassen kannst. Das passiert keinesfalls augenblicklich, es braucht Zeit, bis sich Oceans Werk in voller Blüte entfaltet.
"Blonde" fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit in voller Länge. Gerade im Zeitalter des Streamings scheinen Alben oft nur noch so viel wert zu sein wie ihre Singles. Das Format Album verkommt zum anspruchslosen Rohbau, um den nächsten Nummer-eins-Hit auf die Playlisten dieser Welt zu befördern.
In Anbetracht dessen stellt "Blonde" ein umso beachtlicheres Wagnis dar. Denn nach dem ersten Durchlauf sticht kein einzelner Song aus der Masse heraus. Vielmehr verflechten sich die Versatzstücke zu einem ungreifbaren Konstrukt.
Frank Ocean entschleunigt, provoziert und bricht mit Konventionen. Er macht alles, nur nicht das Vorhersehbare. Vor allem aber reduziert er seine Musik auf ein Minimum, wirft sämtlichen überflüssigen Ballast von Bord. Was bleibt, sind zurückgenommene, unauffällige Instrumentals, die Oceans engelsgleicher Stimme deutlich mehr Raum geben als noch der Vorgänger.
Sanfte Akustikgitarren, elektrische Pianos und verspulte Orgeln bilden das musikalische Gerüst, auf dem ein selbstbewusster Frank Ocean ein Falsett nach dem anderen schmettert. Lyrisch zeigt sich der 28-Jährige dabei so einfallsreich wie selten zuvor, gibt teils tiefe, berührende Einblicke in sein Seelenleben und erzählt einfühlsam von vergangenen Liebschaften.
Romantische Geständnisse, verspielte Reminiszenzen oder eben rührend persönliche Selbstreflexion: "Blonde" wandelt unentschlossen zwischen Erinnerung und Zukunftsvision und erzählt eine Geschichte von Kindheitsträumen, die im Angesicht des Erwachsenwerdens wie Seifenblasen zerplatzen.
Der größte Trumpf der Platte bleibt aber besagte Unberechenbarkeit: Wenn "Nights" urplötzlich von einem psychedelischen Gitarrensolo zerrissen wird, André 3000 auf "Solo (Reprise)" ohne Vorwarnung zu einem atemberaubenden Reim-Stakkato ansetzt oder gehetzte Drums die Chorgesänge auf "Pretty Sweet" verdrängen - dann liefert "Blonde" die großartigen Momente, die sich eben erst bei genauerem Hinhören offenbaren.
Nie kann man sich sicher sein, welche Abzweigung er auf einem Track nimmt, denn der Sänger sträubt sich hartnäckig gegen jedwede Konvention. Er bricht gängige Strukturen auf, wagt Experimente und geht Risiken ein. Allein dafür gebührt einem Künstler in seiner Position größtmöglicher Respekt. Nur hat Frank Ocean dazu das Glück, so verdammt talentiert zu sein, dass dabei noch ein stilles, kleines Meisterwerk herauskommt.
11 Kommentare mit 21 Antworten
Wird wohl vorerst ein Promoexemplar werden, solange es das Teil exklusiv nur auf Apple Music gibt.
Gibt es das Albung auch nicht physisch?
Die ersten zwei Wochen ist es ausschließlich auf Apple Music zu hören. Ob es physisch auch released wird weiß ich nicht, hoffe aber doch stark.
Wie ich diese Releasepolitik hasse, aber es wird sich schon rentieren für ihn.
"Four years later, (Channel Orange) remains a uniquely weird album, but Blonde, by comparison, makes it sound downright conventional."
Frank schafft hier etwas was zuletzt Kendrick Lamar mit TPAB und davor nur den ganz Großen (und nicht mal allen) geglückt ist, nämlich das Debut-Meisterwerk eben mal um eine Bootslänge zu übertreffen und ein noch wirkungsvolleres, experimentelleres und vielseitigeres Album zu schaffen. Er ist wahrscheinlich jetzt schon DER R'n'B/Neo Soul/Pop-Künstler der letzten 10 bis 15 Jahre.
Weiß nicht ganz ob das in deine Kategorie "R'n'B/Neo Soul/Pop" passt, aber falls ja, dann würde ich gerne die Young Fathers in die Runde werfen.
hab das jetzt mal so da hingeschrieben, enthält ja auf jeden Fall Elemente davon.
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
Hört sich gut an, fand Channel Orange schon sehr gut. Dieses Jahr gibt es dann vielleicht doch mal ein sehr gutes Album.
Hör es bitte nicht. Wenn Du Missgestalt das feiern würdest, würde es mir das Albung echt vergrätzen...Geh doch stattdessen nochmal alle Drachenlord Videos schauen...
Tut mir leid, Bro, aber musikalisch sind wir näher beeinander, als dir lieb sein dürfte.
Ist Olivander nicht auch Schwabe?
Craze in der Bredouille
Keine Sorge. Craze wird bald den von ihm perfektionierten Wendehalsmove vollführen und behaupten, Frank Ocean nie gefeiert zu haben.
das wäre aber nur legitim und das würde jeder tun
Fantastische Stimme, experimentelle Songstrukturen und ein paar abwechslungsreiche Skits. Nicht ganz so gut wie Channel Orange, aber wieder mal ein schönes Album. 4/5.
Beste Tracks:
Ivy
Nights
Solo
White Ferrari
Dekadenalbum: Ist nicht mal besonders schwer zugänglich, zündet aber erst nach drei oder vier Durchläufen. Wird in der Nachbetrachtung als das Album der 10er Jahre gelten, wegen dem Vibe, den Songstrukturen und den Themen des Albums. Channel Orange war schon episch, das hier ist noch besser. Frank ist der Künstler dieser Generation.
EineS der besten Alben der letzten 5 Jahre: White Ferrari, Nights, Ivy und Nikes sind unfassbar gut.