laut.de-Kritik
Faszinierender Middle-East-Gothic des Postpunk-Pioniers.
Review von Ulf KubankeDie Welt in naher Zukunft: Vom Klimawandel verheert erstreckt sich Wüste über große Teile des Planeten. Blühende Landschaften sind ebenso Geschichte wie moderne Technik, Zivilgesellschaft oder Ethik. Im kulturfreien Raum herrscht zwischen den Menschen ein mitleidloser Kampf ums Überleben. Des Tags hat der Sozialdarwinismus alle fest in der Klaue. Des Nachts quälen sie Albträume ihrer vor Sonnenuntergang verübten Gräueltaten. Nagende Sehnsucht nach Erlösung ist so allgegenwärtig wie die Hände blutbesudelt. Inmitten dieser Hölle findet man gut erhaltene Rudimente eines "Heiligen Buches" aus der Vergangenheit, unserer Gegenwart. Gary Numan: "Und von diesem Moment an geht alles erst so richtig den Bach runter."
Mit "Savage (Songs From A Broken World)" erreicht der knapp 60-jährige Brite den vorläufigen Zenith seines Schaffens. Bereits "Dead Son Rising" war 2011 ein melodisch großer Wurf. Mit der introspektiven Depression "Splinter (Songs From A Broken Mind)" entwarf er zwei Jahre später ein ebenso bizarres wie filmmusikalisch geerdetes Gemälde des eigenen Innenlebens. Auf vorliegendem Konzeptalbum führt der in Los Angeles lebende Londoner beide Stränge zusammen. Totale Kaputtheit trifft anmutige Klangmalerei. Filmische Sequenzen treffen auf Häcksler. Große Refrains treffen Fleischwolf.
Der Humanist Numan ist als Verfechter des rationalen, empathischen Denkens einmal mehr so richtig bedient von unserer Welt. Christlicher Dominionismus, islamistischer Terror und nun auch noch der narzisstische König aller postfaktischen Klimawandel-Leugner als Chef im Weißen Haus. Einen Rückzug ins Mittelalter sieht Numan dieser Tage gleichwohl nicht. Allerdings nur, weil unsere Spezies das dunkle Zeitalter seiner Ansicht ohnehin nie wirklich überwunden hat. Also her mit einer Platte, die der Menschheit deutlich zeigt, in welches Verderben Umweltzerstörung und Klerikalfaschismus münden könnte.
Etwas makaber, dass punktgenau zur Veröffentlichung nun die Wirbelstürme Irma und Harvey, etliche Sturmfluten in Asien sowie ein Erdbeben in Mexiko die Nachrichten bestimmen. So wähnt man sich automatisch einen Schritt näher an jener Apokalypse, die der Miterfinder von New Wave und elektronischer Rockmusik hier so eindringlich schildert. "Are Friends Electric?" Vergesst es, in dieser Dystopie gibt es weder Freunde noch Strom.
Numan selbst klingt zehn Songs lang unfassbar alterslos und fern aller irdisch bekannten Gattungen. Zwischen Publikum und Künstler scheinen mehrere Galaxien zu liegen. Ob ihm sein Asperger Syndrom solch eine faszinierende Performance ermöglicht? Diese eigentümliche Darbietung eines Wechsels extraterrestrischer Entrücktheit mit knallhart konfrontativem Ins-Gesicht-Springen? Vielleicht ein wenig.
Vor allem ist es jedoch musikalische Neugier und der ihm innewohnende Drang, jenseits verhasster Stagnation immer weiter in die Tiefe der eigenen Klangwelt vorzudringen. Genau diese Antrieb beschert ihm als nahezu einzigem Postpunk-Pionier den Zugewinn junger Fans.
Zum kargen Cover-Bild, das "Mad Max"-Charaktere mit Tagelmust und Schwert evoziert, gesellt sich endzeitliche Elektronica mit Andeutungen nahöstlicher Klangfarben. Verzerrt und beschnitten gebären sie zusammen mit Beats, Riffs und Hooklines eine Art Desert-Post-Industrial. Über den Sud gießt Numan seine hypnotischen, sehr prägnant intonierten Gesangslinien. This is Middle East-Gothic!
Außer einer neu arrangierten Variante von "Bed Of Thorns" (vom Soundtrack zu "Ghost In The Shell"), sind alle Tracks neu, darunter elegante Stücke wie "Ghost Nation" oder "My Name Is Ruin", die Dekonstruktion mit Tanzbarkeit vereinen. Auf letzterem singt erstmals auch Numans elfjährige Tochter Persia mit. Passionierte Numan-Kryptiker finden wieer Spaß am Dechiffrieren, ist doch die Titelzeile von "When The World Comes Apart" bewusst als Fortführung des Songs "Magic" (vom 1994er Album "Sacrifice") angelegt. Und immer geht es hin und her zwischen Opulenz und Minimalismus.
Inmitten dieser Ödnis erhebt sich im Zentrum der Platte trotz aller Gluthitze eine zarte Pflanze. "And It All Began With You" fungiert hörbar als Auge in Numans Wüstensturm. Zerbrechlich und stark wie die Liebe nun einmal ist, verschafft sie zwei Charakteren eine romantische Verschnaufpause, bevor das Grauen erneut losbricht. Besonders Numans zurückhaltender, dabei höchst nuancierter Gesang ist hier eine Attraktion. Nach dem Finale "Broken" bleibt das Ende der Geschichte so offen wie die mit ihm verbundenen Fragen unserer Zeit.
10 Kommentare mit 20 Antworten
Per Zufall auf dem Videoabspielkanal meines Vertrauens auf "My Name Is Ruin" gestoßen. War in Kürze infiziert und musste erstmal aus den 48jährigen Hirnwindungen herauskramen, wer der Mann eigentlich ist. Kann der Rezension nur voll zustimmen: Düster, apokalyptisch und doch erstaunlich melodiös mit teilweise schwerem Industrial-Sound. Nur scheinbar aus der Zeit gefallen und damit hochaktuell. Eindeutig 5/5.
Same here.
Episch. Sehr, sehr geil.
5/5 sind schon alleine für "My Name is Ruin'" gerechtfertigt
Gary ist mein neuer (alter) Messias. Jede Faser in mir schwingt synchron, aufgeladen und düster euphorisch mit jeder Note, jedem Stepp, jeder Silbe seiner elektrischen Stimme. Ich verneige mich in Demut und Dankbarkeit vor diesem Werk, diesem Künstler, der nun schon seit 35 Jahren mein Leben begleitet und mich selbst zum Musiker gestanzt hat!
seine frühen sachen natürlich unfickbar, aber das einfach unhörbare, wenn auch bessere schwarze szene scheisse
Ich habe immer nachjemandem gesucht, der die Genialität im Songwriting hat, die Trent Reznor bis zu "The Slip" hatte (2008). Gary Numan war mir echt unbekannt. Da Album ist 5 von 5 oder 10 von 10 oder 20 von 20 wenn ihr wollt. Songschreiberisch geht nicht mehr. Flächig, episch, unglaublich.
Wem das gefällt empfehle ich mal den Song und das Video vom Vorgängeralbum "I am dust"!