laut.de-Kritik
Ein alter Geist liefert einen Soundtrack ohne Film.
Review von Jeremias HeppelerGemma Ray umschwebt eine dunkle, zerbrechliche, und doch faszinierende Aura. Vielleicht liegt das an der mysteriösen Krankheit, die sie für lange Zeit ans Bett fesselte und dazu anspornte, ihre Karriere zu starten. Jedenfalls wird man das Gefühl nicht los, dass in dieser Frau ein ganz alter Geist präsent ist. Einer, der schon in den 50er und 60er Jahren in verrauchten Tanzbars Szene und Musik aufsaugte, Nancy Sinatra und Aretha Franklin lauschte, später mit Janis Joplin durch Woodstock wanderte und in den 80ern Punk und Postpunk miterlebte.
Die Vergleiche mit anderen Diven des gegenwärtigen britischen Popdiskurses führen jedenfalls immer wieder in Sackgassen. Gemma Ray lässt sich nicht richtig greifen, vor allem weil sie nicht davor zurückschreckt, mit den musikalischen Grundbausteinen des Mainstreams zu flirten. Ihr neues, wirklich überzeugendes Album "The Exodus Suite" zeigt das. Bei allen Experimenten und Zitaten, bei allem Ab- und Wegdriften ins Psychedelische und Abstrakte macht Gemma Ray immer noch Pop. Pop zwar, der stetig auf sich selbst verweist, der zerfahren und zerschunden daher kommt, aber eben auch eingängig und tanzbar sein darf. Ja, sein muss.
Der grandiose Albumvorbote "There Must Be More Than This" mutet zu Beginn beinahe exotisch an, reduziert und roh, manisch getrieben. Passend dazu klingt Gemma selbst zunächst wie Soap&Skin, also irgendwie verkratzt und gebrochen, ehe der Song eine langwierige Abzweigung nimmt und irgendwo in einer Hippie-Traumwelt wieder aufwacht. Das Stück besitzt massive Coolness und stylischen Retro-Flow, wie ihn Tarantino gerne auf seine Soundtracks packt und wie wir ihn beispielsweise aus "Girl, You Be A Woman, Soon" von Urge Overkill kennen.
Wie ein Tarantino-Streifen mixt Gemma Ray verschiedene Zutaten und Zitate und ergänzt den ausufernden Krautrock schon bald durch ultrapräzise Jazz- und Bluestechniken: Gastpianist Carwyn Ellis schiebt sich leichtfüßig über die von undurchdringlicher Dunkelheit durchzogene Grundkomposition, nimmt sich zurück, drängt sich dann wieder in der Vordergrund. Das klingt elegant anders und macht "There Must Be More Than This" zu einem echten Anwärter auf den besten Song des Jahres.
Der Rest des Album fällt dagegen naturgemäß ein wenig ab. "The Original One" kommt auf primärer Soundebene einfach zu geradlinig daher, auch weil Gemma hier teilweise Adele zum verwechseln ähnlich klingt. Das geht eigentlich schon wieder als Kompliment durch, aber die Messlatte liegt nach dem fantastischen Auftakt eben ein Stück weit höher, abseits von Radiopop.
Genau hier überrascht das Album. "The Original One" zerfasert im zweiten Teil in eine unfassbare instrumentale Sequenz, die ein Beach Boys-mäßiges Surferriff auseinander frickelt und in Zeitlupe über den Song tropfen lässt. "Hail Animal" mutet extrem reduziert an, Gemmas Stimme drängt in den Mittelpunkt, das musikalische Grundgerüst verhält sich reduziert wie eine Bleistiftzeichnung und zeigt zwar einige Schattierungen, bleibt aber nur Skizze, die die Sängerin dann teilweise mit gebrochener Stimme ausmalt. Diese bewusste Zurücknahme, die aber doch einen sphärischen Charakter in sich trägt, kennen wir von gewissen Radiohead-Fragmenten, die auf dem ganzen Album immer wieder als markante Beeinflussung sichtbar und spürbar zutage treten.
Das beinahe mystische, sakrale und später eingängig elektrifizierte "The Machine", die etwas zähe, weil in die Länge gezogene Pop-Aggression "We Do War" oder die dahin gehauchte instrumentelle Selbstreflektion "Avta Non Verba": "The Exodus Suite" präsentiert eine Vielzahl von tonnenschweren, anziehenden Momenten. Dennoch besitzt das Album einen individuellen und homogenen Sound, der die zwölf Stücke vielgliedrig verzahnt und ein Gesamtkunstwerk schafft, auf dem die einzelnen Räder effektiv ineinander greifen.
Diese Eigenschaft bedeutet für den Hörer Segen und Fluch zugleich. Hört man die Platte in einer konzentrierten Session durch, macht sich bald Eintönigkeit breit. Die Stücke drehen sich ein wenig im Kreis und beißen in den eigenen Soundschwanz. Der Intensität der einzelnen Songs tut das freilich keinen Abbruch. Sie funkeln als verschrobene Kleinode und Meisterwerke, übermalen sich in der Kombination aber regelrecht gegenseitig. Deshalb sei der Genuss dieses Album in kleinen Dosen empfohlen, erst dann entfaltet es seine Wirkung.
Am Ende überzeugt Gemma Ray auf ihrem siebten Album aber dennoch. Exquisites Songwriting vereint das Beste aus verschiedenen Klangwelten und Epochen zu einem neu aufgemischten Konglomerat. Dabei entsteht ein Soundtrack ohne Film. Für die Bilder ist der Rezipient selbst verantwortlich, er muss die offenen Leerstellen füllen. Daraus ergibt sich ein angenehmes Hörerlebnis, das den wohlig schaudernden Hörer auf verschiedenen Ebenen anspricht.
1 Kommentar
Ich muss ih wenigstens mal einen Kommentar widmen. Ihr habt ja auch schon ihre letzten beiden Platten rezensiert und "Down baby down" hat es genau wie "Milk for your Motors" in die jeweilige Top 20 des Jahres geschafft bei mir - aber das blieb hier alles sträflich vernachlässigt!
Werde das morgen mindestens probehören, absolute Empfehlung Richtung randwer etc., wenn ihr nicht eh schon zugegriffen habt!