laut.de-Kritik
Ein Maschinen-Boxkampf im Goth-Wave-Ring.
Review von Johannes JimenoDer Dark Lord des Elektro zeigt uns mit "Gamma" den Mittelfinger und macht das, wonach es ihm gelüstet. Nach dem poppigen und ausschweifenden "Hyperion" verteilt er mit voller Wucht elf musikalische Fausthiebe, die nicht mal eine halbe Stunde dauern. Und es scheint, als hätte er viel Frust und Aggression angestaut.
Features gibt es im Vergleich zum Vorgänger nur ein einziges: Der Franko-Amerikaner Yan Wagner tritt dafür bei allen Songs mit Vocals in Erscheinung. Gesaffelstein springt in Gestalt eines schwarz glänzenden Chrom-Roboters beherzt in den Boxring, bestehend aus Goth, Wave und Tech-Rave der 80er sowie frühen 90er und setzt unentwegt Tiefschläge, während sein Sänger den Trainer in der Ringecke gibt.
"Digital Slaves" eröffnet Genre-konform den Kampf, Wagners tiefes Timbre macht sich schon mal warm. "Hard Dreams" übernimmt diese Stimmung, schiebt aber mehr in Richtung Emo-Goth mit Rave-artigen Sirenen. Erinnerungen an Depeche Mode zu Violator-Zeiten werden wach. Der Kinnhaken "Your Share Of The Night" streift den Kontrahenten trotz etlicher metallischer Klänge nur: Die langgezogenen Vokale und der sehr getragene Gesang zünden nicht richtig.
Daraufhin bricht sich eine "Hysteria" Bahn und eine Wave-Punkrock-Salve prasselt über uns hinein. Kratzend ächzende E-Gitarren flankiert von Synth-Stakkati lassen den Gegner taumeln. "The Urge" legt mit Filter-Techno und Rave-Elementen direkt nach und versprüht Terminator/RoboCop-Vibes, Yan erzählt von einer düsteren Zukunft: "Red, hot, blood / Get down in that pitch black cave / This city is a no man's land". Eine verträumte und liebliche Verschnaufpause gönnt sich Mike Lévy am Ende des Songs dann trotzdem, nur um direkt im Anschluss erneut völlig auszurasten.
"Mania" poltert, wütet, stampft und bildet den schnelleren, dreckigeren Bruder von Daft Punks "Human After All". Eine schöne Melodieführung segelt durch lautes Maschinengekreische - ein wilder Fiebertraum.
Hier geht der Widersacher das erste Mal zu Boden, zum Glück ertönt die Pausenglocke namens "Lost Love", eine kitschige Elektro-Ballade mit kaskadierenden Synthies, bei dem Wagner dermaßen den schmierigen Chansonnier mimt, dass man meinen könnte, es handele sich um eine Persiflage. Selbst wenn das so gewollt ist, bleibt nicht viel mehr als Cringe übrig. Diesen Fauxpas bügelt Mike im coolen "The Perfect" wieder aus, bei dem er sich mit lässiger Attitüde und modernem Touch die nicht vorhandenen Schweißperlen von der Stirn wischt. Die mentale Vorbereitung auf das Finale läuft indes auf Hochtouren: "Psycho" klingt wie ein furchteinflößender Stammestanz einer unbekannten Zivilisation, übersetzt von einem Maschinenpark.
Zeit für die letzte Runde, das Gegenüber hat sich ebenfalls berappelt. Abermals zitiert der Franzose seine bekanntesten Landsmänner in "Tyranny", einem sich sukzessive steigernden Filter-French-House, das stark nach "Brainwasher" oder "Television Rules The Nation" klingt. Auf jeder zukünftigen Rave-Party dürfte das ein certified Banger sein.
Dieser wuchtige Uppercut schickt den Rivalen endgültig auf die Bretter, das weiße Handtuch wirft Schatten auf den Boden. Gesaffelstein geht als klarer Sieger aus dem Ring, die rechte Hand vom Ringrichter nach oben gestreckt. Dazu ertönt "Emet" als verspult melancholischer Ausklang, die rückwärts abgespielten Loops klingen, als würden Androiden auf Wiedersehen sagen. Eine reichlich sperrige Verabschiedung.
Das Album stößt erbarmungslos vor den Kopf und ist so schnell vorbei, wie es gekommen ist. Bis auf einen Song unterbieten alle Tracks die Marke von drei Minuten, in seiner Struktur ballert es roh, widerspenstig und gehetzt aus den Boxen. Für Lévy dürfte dies einem kleinen Befreiungsschlag gleichkommen, um Dampf abzulassen und auf jene Erwartungen zu pfeifen, die er durch Flirts mit The Weeknd, Pharrell oder Lil Nas X selbst heraufbeschworen hat.
1 Kommentar
Bester Moment in Bezug auf diesen Künstler bleibt noch immer die Anfrage bei der (französischen) Promo-Agentur, was es denn mit diesem Namen auf sich habe. Zurück kam ein angepisstes "What do you mean? It is a GERMAN WORD!". Tja.