laut.de-Kritik

Deutschgoth zwischen Chanson und Post Rock.

Review von

Früher standen wir am Abgrund, jetzt sind wir einen Schritt weiter. Für Oswald Henke trifft dieser bekannte Spruch zu. Mtte der 90er veröffentlichte er mit dem Goethes Erben-Nebenprojekt Artwork den heutigen Szeneklassiker "2 Schritte vor dem Abgrund". Das neue Album der Hauptband heißt nunmehr "Am Abgrund". Der Titel ist Programm.

Alle zehn Stücke verfügen über Stärken, deren künstlerische Kraft die postulierte Abgründigkeit hervorhebt. Arrangements, dramaturgischem Aufbau und melodische Einfälle erhöhen dabei den Lustfaktor. Besonders im Vergleich zu frühen Klassikern zeigt sich die Entwicklung. War etwa das spröde "Das Sterben Ist Ästhetisch Bunt" kaum mehr als eine bizarre Klangskizze, deren zweifelhafte These höchstens für Gerichtsmediziner oder Gunther von Hagens zutrifft, reifte Henke über viele Jahre zum echten Songwriter.

Die CD wartet mit zwei Lockmitteln auf. Eines davon ist chansoneske Zurückgenommenheit, die auf dem Fundament eines intimen, sehr ausdrucksstarken Pianos entsteht. Wo es auftaucht, verströmt es katakombische Dunkelheit. Als weiteres Highlight glüht inmitten der Finsternis zwischendurch eine E-Gitarre auf.

Deren sphärisches, gleichwohl zupackendes Mäandern fußt nahe klassischen Gothic Rocks mit einem Klangbild, das heftig im artverwandten Post Rock wildert. Mitunter gewinnt man den Eindruck, Henke habe Explosions In The Sky und God Is An Astronaut entführt und auf Mausoleum gebürstet. Inmitten der vom Klavier umhüllten Finsternis schimmern diese Gitarren wie Punktstrahler über Särgen in einer Aufbahrungshalle. Beide effektiven Faktoren erzeugen intensive, schwelgende Melancholie. Anspieltipps hierzu: "Wucht" und das Titelstück.

Neben den getragenen Passagen türmen sich die Lieder gelegentlich zu harschen Lawinen auf, deren zorniger Geist stilistisch im Post-Industrial wildert. Alle verschiedenen Klangmäntel zeichnen sich durch ihre klare, sehr prägnante und homogene Produktion aus, deren Sound audiophil ins Ohr gleitet. Würden die Erben als Gimmick parallel eine reine Instrumentalversion der Platte veröffentlichen, sie könnte sich sehen lassen.

Mit Henkes Vortrag und seiner Art zu texten hat man es einmal mehr nicht ganz so leicht. Methodisch schlüpft er in verschiedene Perspektiven, die teils beobachtend, teils als Handlungsträger dem Gros der Menschheit ein ethisches Armutszeugnis ausstellen. Dabei springt er zwischen introvertierter Selbstbeleuchtung und deklamierender Extrovertiertheit hin und her, entkommt auf diese Weise szenetypischer Einspurigkeit.

Zwar überlädt er die Tracks gelegentlich mit Worten und beraubt manch gelungene Bilder ihrer Wirkung, weil er - etwa in "Rot" - dazu neigt, die eigene Pointe nicht stehen zu lassen, sondern sie zu erklären, als sei der jeweilige Song simultan seine eigene Sekundärliteratur. Auch gelegentlichen Selbstfindungsplattitüden aus der Nische weinerlichen Deutschgoths hätte er besser gekappt.

Im großen und ganzen jedoch zeigt Henke sich als versierter Theatermann, dessen Organ zwischen Nebelkrähe und Kinski doppelbödige bis konkrete Einsichten serviert. Wenn er in "Schlaflos" etwa davon spricht, wie in Zeiten postfaktischer Populismen das Wissen in Scherben brach liege, deren Schärfe nur schneide statt Erkenntnis zu bringen, mag man ihm nicht widersprechen. Sein Talent zur Dramaqueen hat weit mehr Nuancen in Petto als manch ein deutschsprachiger Kollege. Es setzt auf variable Betonung, wispert, brüllt und beherrscht den Kniff der Kunstpause, denn "die Wucht allein gefällt mir nicht."

"Was darf trotz Schwäche überleben, sich fortpflanzen? Warum solche Gedanken? Weil die Menschheit degeneriert nicht wert ist, weiter zu existieren!". Bärenstarken Tobak kredenzt er mit dem fiesen "Darwins Jünger". Im Volksgerichtshof-Ton Freislers fräst Henke sich gallebitter durch menschenverachtenden Sozialdarwinismus und spannt einen plausiblen Bogen vom Dritten Reich zu gegenwärtigen Nationalisten und Rechtsextremen. Dabei haut er dem Publikum derbe Rhythmen um die Ohren wie ein Vorschlaghammer.

Als hitverdächtiger Höhepunkt gräbt sich "Lazarus" aus der Gruft. Angemessen sarkastisch geißelt er hier die Renaissance völkischen Denkens und die Abschottungspolitik Europas. "Europa massiert sich seine weißen Füße vom täglichen Treten!" Ebenso deutlich fällt die Ansage gen fundamentalistische Religionen aus, denn "Götter gebären nur Deformierte." Die aufgeladene Botschaft verpackt Henke in ködernde Eingängigkeit, gekrönt durch einen einprägsamen Chorus. Das gesamte Album kulminiert im Schlüsselmoment "Blutende Mütter und weinende Kinder, wir schießen und heulen, wir bigotten Sünder.".

Im finalen Song gönnen die Erben dem Hörer dann doch noch zaghaft aufblitzende Hoffnung, wenn er alle Seelen anspricht, die gefährlich nah am Abgrund tanzen, ohne zu fallen. So muss die Zukunft schlussendlich doch nicht ganz so schwarz ausfallen, wenn man Acht gibt, "denn dann, denn dann, denn dann ..."

Trackliste

  1. 1. Wucht
  2. 2. Es Ist Still
  3. 3. Rot
  4. 4. Verstümmelung
  5. 5. Darwins Jünger
  6. 6. Denn Es Ist Immer So
  7. 7. Lazarus
  8. 8. Zu Lang Geschwiegen
  9. 9. Schlaflos
  10. 10. Am Abgrund

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