laut.de-Kritik
Unser Sanitäter in der Not.
Review von Emil Dröll1984. Die Bundesrepublik trägt noch beige und am Kiosk gibt's die Bravo mit Nena. Und dann kommt Herbert. Macht sich unsterblich mit einem Album, das nichts will und alles erreicht. "Bochum", zehn Songs, ein Manifest. Kein Konzeptalbum, sondern ein Zustand. Eine Platte, die klingt, als hätte Herbert beim Bäcker um die Ecke fünf Minuten zugehört – und daraus deutsche Pop-Geschichte gebacken.
Schon der Titeltrack setzt die Messlatte der musikalischen Heimatliebe so hoch, dass sich selbst "Born In The U.S.A." leicht räuspern muss. Grönemeyer gießt Lokalpatriotismus in die vielleicht liebevollste Hymne, die je einer Stadt gewidmet wurde. Und das für eine Stadt, die man früher in erster Linie mit dem Wort potthässlich verband – heute aber nur noch mit Kult. Und mit diesem einen Saxophon-Solo.
Und dann: "Männer". Ein Song wie ein Spiegelkabinett. Chauvinismus-Kritik, Satire oder weinerlicher Jammerlappen-Song? Alles. Und nichts davon. Wer sich bemitleiden will, grölt "Männer haben's schwer, nehmen's leicht", wer mit dem Ex abrechnet, nimmt "Männer lügen am Telefon". Aber wahre Connaisseure, die singen alles mit. Wort für Wort. Weil Herbert hier nicht Goethe ist, nicht Kafka – sondern Herbert. Roh, direkt, wahr. Eine Hymne für Männer und keine Männer, gegen Klischees, für Menschlichkeit. Verpackt in musikalische Finesse und ein präzises Arrangement.
"Flugzeuge Im Bauch" ist der Moment, in dem man das Album kurz anhalten will, um sich neu zu sortieren. Eine Ballade über kalte Liebe, so warm gesungen, dass einem das Herz einfriert – und dann auftaut. "Gib mir mein Herz zurück" – Herbert, bitte. Wir alle haben es dagelassen, denn dieser Song ist ein Brett. Ein Souvenir aus der emotionalen Hölle – ohne Rückgaberecht.
Direkt danach, wie eine Antwort, "Alkohol" – ein Song, so ehrlich, dass man unwillkürlich das Glas absetzt. Kein Zeigefinger, kein Moralapostel. Nur die trockene, bittere Wahrheit: "Alkohol ist dein Sanitäter in der Not". Und zugleich "das Schiff, mit dem du untergehst". Und wieder: dieses Saxophon. Es kommt nicht als Solo, es kommt als Schlag ins Gesicht. Und man bedankt sich dafür.
"Amerika" startet wie eine politisch korrekte Präsentation: Erst das Lob, dann die schleichende, nett formulierte Besorgnis. "Du hast viel für uns getan" – ja, stimmt. "Ich habe Angst vor deiner Phantasie" – leider auch. Auch wenn man für einige spezielle Zeitgenossen die "Phantasie" mit simpler Dummheit austauschen könnte. Wie prophetisch das klingt, fast 40 Jahre später, im Zeitalter von Social-Media-Wahnsinn und geopolitischem Wackel-Diplomatie-Bingo. Amerika, einst Sehnsuchtsort, wird hier zur metaphorischen Großmacht der Ambivalenz. Grönemeyer als transatlantischer Seismograph.
Mit "Für Dich Da" folgt ein versöhnlicher Zwischenruf. Vielleicht kein Riesenhit, aber ein Groove zum Mitwippen. Textlich etwas konservativer, ja – aber hey: Wer will nach dem Alkoholsong schon eine weitere Existenzkrise? "Jetzt Oder Nie" zeigt Grönemeyer politisch. Laut. Klar. Kein verkopfter Diskurs, sondern der berühmte Tritt in den Arsch. "Kämpfen für ein Land, wo jeder noch reden kann". Auch 2025 leider relevant. Zwischen Oberflächlichkeit und TikTok-Schwurbelei mahnt Herbert zur Mündigkeit. Eine Hymne an das Nicht-Aufgeben. "Wer ewig schluckt, stirbt von innen" – eine Punchline, die man sich auf die Innenseite der Unterlippe tätowieren lassen möchte. Oder so.
Und dann kommen die beiden emotionalen Endgegner: "Fangfragen" – Kontrollfreak-Romantik in Reinform. Liebe als Labyrinth. Und "Erwischt", das Kontrastprogramm: verliebt, verknallt, verloren. Zwei Songs, zwei Pole – und Grönemeyer irgendwo dazwischen, als Chronist der Zerrissenheit. Der Closer "Mambo" ist vielleicht psychotischste, aber gleichzeitig unterhaltsamste Track. Ein Groove wie ein Wärmestau auf der A3, ein Text wie ein Verkehrsunfall der Emotionen. Kein Parkplatz, aber Hummeln im Arsch. Und Herbert singt, als hätte er zu viel Kaffee und zu wenig Geduld, und wir sitzen auf dem Beifahrersitz. Funky, hibbelig, komplett drüber – und genau deswegen: großartig.
Auf "Bochum" schüttelt Herbert Grönemeyer mal eben eine Handvoll deutsche Hymnen aus dem Ärmel, die jeder kennt – ob Ultra oder Grönemeyer-Verweigerer (was ist mit euch eigentlich los?). Dieses Album ist kein Denkmal, es ist ein Nachbarschaftsfest, bei dem alle eingeladen sind. Es ist vielleicht nicht perfekt, aber genau darin liegt seine Größe. Es will nichts beweisen, und sagt doch alles. Herbert wurde mit "Bochum" einer von uns. Oder hat bewiesen, dass er es schon immer war. Und wir? Wir singen immer noch mit. Voller Überzeugung, mit ein bisschen Heimweh – selbst, wenn wir noch nie in Bochum waren.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 13 Antworten
Schöne Rezi und ein verdienter Meilenstein. Neulich mal wieder die Vinyl von 1984 angehört, und freudig festgestellt, wie gut die damals schon produziert war.
"Du hast den Ruß abgewaschen
Und deine Öfen sind kalt
Doch deine Zechen sind voll Leben
Hier wird getanzt, gelacht
Das Morgen ausgedacht
Gefördert wird, was lebt"
->
Welch schräg' und fern' Moral,
die gib' ich mir grad a**l,
ist's in einer Exklave?
Dort, wo Mensch ist ein Sklave?
der Herbert wollt' uns pranken,
denn Lachen tun' immer nur die Banken.
Gemeldet wegen gar grausiger Metrik!
Ach was, beim VBT hätten die das 2011 ins Finale durchgewunken. Sogar ohne Video.
I'm lost.. in these memorieees..
*gib'ch
*in einer fern'
*wo Mensch ist noch
So, besser? Sry.
Neben dem Begriff "verschlimmbessern" ist im Wörterbuch ein Direktlink zu deinen zwölfeinhalb Profilen hier abgedruckt, Jong!

Ich sach ja, loster als lost
❤️ an Alle.
In der Tat ein Meilenstein.
Achso, es sind übrigens 10 Songs, nicht 9.
...und, er hat die PLZ vergessen. Aber ich herbe da keinen Dröll.
"Männer nehm'n in den Arm
Männer geben Geborgenheit
Männer weinen heimlich
Männer brauchen viel Zärtlichkeit
Oh, Männer sind so verletzlich
Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich"
Sehr geschickt, wie er eine Schwäche der Männer, nämlich die Stärke in eine Stärke umwandelt: nämlich die "Schwäche".
Initiative ergreifen, mit den Armen umgreifen. Anteilnahme zeigen, Fragen, wie es einem geht. Offen bleibt die moralische
Einordnung des Zurückziehens beim Weinen. Er scheint es den übrigen gesellschaftlichen Teilnehmerinnen offen zu lassen, stellt lediglich fest:
"Männer brauchen viel Zärtlichkeit". Möglich, dass er Männern die Freiheit überlassen will, wie in diesem Zustand zu agieren ist, aber das Recht auf Empathie durchaus auch für Männer gilt.
Die letzten beiden Zeilen zeigen unmissverständlich den Spannungsdruck auf, in dem sich Männer befinden. Offenbare Verletzlichkeit, aber auch eine mystische Unersetzlichkeit. Bin jetzt nicht sicher, ob er damit die Verteidigung eines Landes meint, die Überrepräsentation von Männern
in Berufen der Baubranche ("baggern wie blöde"), die Bereitschaft für eine höhere Sterblichkeit zur Verfügung zu stehen, selbst Opfer des eigenen Geschlechts zu sein, aber
aufgrund des sozialen Leistungsdrucks aller Geschlechter dann doch immer wieder dazu gezwungen werden, eben jene Leistung erbringen zu müssen ("Double-Bind")?
Wahrscheinlich findet er Männer einfach unterhaltsam und möchte sie nicht missen. So wie sich selbst. Brüllen kann er ja.
...find's übrigens Schade, dass Helene Fischer und Andrea Berg strukturell schlechter bewertet werden und Herbert, der ja exakt dieselbe Musikrichtung anbietet mit derselben gedanklichen Tiefe, hier die volle Lotte kassiert. Ob das so im Sinne des Künstlers ist? Naja...
ja, ist ein Meilenstein. Als Persönlichkeit nicht (mehr).
Lösch Dich doch bitte endlich.
Erklär mal, bevor Du Dich löschst.
@Horst
Daran ist er bei Neil Young schon gescheitert. Es reicht völlig, wenn er sich einfach löscht.
Vielleicht werde ich ja mal hier gelöscht, Zensur ist doch in. Gerade in bestimmten Kreisen.
Von einer privaten Webseite gelöscht zu werden, weil man eventuell Blödsinn schreibt, ist keine Zensur.