laut.de-Kritik
Selten war Bombast so unzugänglich.
Review von Maximilian FritzLiefert Holly Herndon ein Album ab, handelt es sich dabei sicherlich nicht um konventionellen Pop, der es darauf anlegt, möglichst viele Hörer um der kommerziellen Erfolge wegen anzuziehen. Die Stanford-Doktorandin beschäftigt sich in ihrer Musik mit drängenden zeitgeistigen Themen und arbeitet sich dabei an komplexen gesamtgesellschaftlichen Phänomenen ab: "Platform" von 2015 setzt sich beispielsweise mit der Struktur des Internets den negativen Konsequenzen auseinander, "PROTO" taucht im Subtext noch einmal tiefer in die Materie ein und thematisiert die Protokolle, die diese ermöglichen.
Um ihre Visionen umzusetzen, greift die futuristisch orientierte Amerikanerin neben Partner Mat Dryhurst und einem vierstimmigen Vokal-Ensemble auf die Künstliche Intelligenz Spawn zurück. Diese fütterte sie lange Zeit mit Daten und gesanglichem Input und beteiligte sie schließlich am Schreibprozess des Albums. Eine weitere Facette des Herndon'schen Œuvres bildet das Sakrale, entstammt ihre gesangliche Sozialisation doch nicht zuletzt den Kirchen Tennessees. Die Musik, die aus diesen Einflüssen resultiert, klingt beizeiten auch so schwer verdaulich, wie man vermuten würde und stellt so ziemlich den Kontrapunkt zu einer Easy Listening-Erfahrung dar.
Das beweist bereits der merkwürdig atonale Opener "Birth", den Stimmfetzen und synthetisierte Orgelklänge füllen. "Alienation" steht anschließend symptomatisch für Herndons Output - und das liegt nicht nur im Titel begründet. Nachdem sich der Hörer anfangs noch im Sound-Kunstrukt zu orientieren weiß, passiert bald derart viel, dass die Reizüberflutung vorprogrammiert scheint. Aus den polternden Bass-Kaskaden erhebt sich immer wieder Herndons verfremdetes Organ, Spuren überlappen sich - selten war Bombast so unzugänglich wie in diesen knapp vier Minuten.
Dass diese Mixtur Gefahr läuft, sich zu erschöpfen, um im schlimmsten Falle schlicht zu nerven, wurde glücklicherweise bedacht: Die meditative Sangesübung "Canaan (Live Training)" bietet nach furiosem Start eine erste Ruhepause. "Eternal" verbindet im Anschluss erstmals die vielfältigen Stimmen des Ensembles mit dem Pop-Entwurf, den Herndon als alternativlos betrachtet: Messerscharfe Synthesizer und stampfende Kickdrums kämpfen mit den Sänger*innen um die Oberhand, nur um das prozessierte Chaos am Ende wieder in Chorälen aufzulösen.
"Crawler" spannt auf die Folter, und das mit einem maximalen Maß an Unbehagen. Wer mit dem Computer-basierten, aufgrund der KI zu einem gewissen Teil randomisierten Ansatz der Musikproduktion nichts anzufangen weiß, klinkt sich wohl just an dieser Stelle aus. Die klagenden, abermals mehrstimmigen "Why am so lost?"-Rufe vereinfachen die Rezeption nicht. Ob der Spoken Word-Track "Extreme Love" danach dys- oder utopische Szenarien entwirft, bleibt Ansichtssache.
Mit "Frontier" folgt eines der zentralen Stücke des Albums. Die Formel bleibt dabei bewährt: Ausgehend von der gesanglichen Basis schichten Herndon und Spawn unermüdlich Lage um Lage aufeinander. In diesem Fall legt sich zudem ein unerwartet tanzbarer Beat unter das raumgreifende Gewirr aus Stimmen, das eine ausladende Instrumentierung obsolet macht.
"I need to know where we stand" presst eine mäandernde Stimme in "Fear, Uncertainty, Doubt" an achter Stelle hervor und läutet so eine Cyborg-Ballade erster Güte ein, die sich nach mehreren Durchgängen zum heimlichen Favoriten des Albums mausert. "SWIM" hingegen poltert, anders als der Rest des Albums, relativ unbedarft los und offenbart mit seiner bemerkenswert klaren Konzeption den größten Pop-Appeal auf "PROTO".
Am KI-Overkill "Godmother", den Herndon gemeinsam mit der Footwork-Spezialistin und 'Patentante' Spawns, Jlin, kreierte, dürften sich die Geister scheiden. Aus losen Footwork-Rhythmen, flirrenden Stimmen und kratzigen Signalen fällt es nämlich schwer, einen funktionierenden Track zu destillieren. "Last Gasp" beschließt das Album in gesetzter Manier und entlässt den Zuhörer auf betont unexperimentelle Weise.
"PROTO" kann man definitiv nicht attestieren, ein durchgehend wohlklingendes Hörerlebnis zu sein. Angesichts der schwer zugänglichen, stellenweise überkomplexen Klanglandschaften, die aus der Symbiose von Mensch und KI hervorgehen, haben Kritiker dieses wissenschaftlichen sowie avantgardistischen Entwurfs von Popmusik leichtes Spiel. Nimmt man sich aber die Zeit, um sich auf Herndons Drittling gebührend einzulassen, kommt man schon eher zu dem Schluss: "PROTO" ist das, was Pop in diesen Tagen braucht.
1 Kommentar
beim Godmother Clip scheint die Audiospur defekt zu sein