laut.de-Kritik

Die Ukrainer bleiben unbequem und progressiv.

Review von

Alles andere als leicht zugänglich präsentieren sich Jinjer auch auf ihrem fünften Studioalbum. "Duél" lässt einen verstört, aber zugleich auch fasziniert zurück. Es gibt schlicht kein Raster, in das sich die Band aus der Ukraine pressen ließe, keine transparente Struktur, der sie folgt. Und so entzieht sich die Platte sämtlichen Erwartungen oder gar Vergleichen.

Eine Abtastphase braucht es nicht. "Tantrum" steigt staubtrocken ein und lässt die diabolischen Growls von Tatiana Shmayluk gleich für sich sprechen. Erst später mischen sich melodische Schlaglichter in den organischen Sound. Doch das bedeutet nicht etwa, dass ein umarmender Chorus das Herz erwärmt. Im Gegenteil leben auch die Clean-Passagen auf "Duél" von technischer Kälte, Dissonanzen und einer experimentell anmutenden Ausgestaltung.

Tracks wie "Tumbleweed" oder "Hedonist" entfachen über dem langsamen Wehklage-Gesang gar eine hypnotische Wirkung. Stimmlich drängen sich dabei vereinzelt Ähnlichkeiten zu Bands wie Lacuna Coil oder den Guano Apes auf. In Sachen Geschwindigkeit herrscht ein enormer Kontrast zwischen harten und soften Ausschnitten. Während ein Song wie "Kafka" in diesem Wirrwarr verhältnismäßig lange braucht, um an Struktur zu gewinnen, erleichtert "Green Serpent" schon den Einstieg über griffige Leadgitarren. Ein echter Anspieltipp!

Wer tiefer eintauchen und erleben möchte, wie sich die Jinjer-Songs langsam besser erschließen, muss sich weiter dem dissoziativen Zwiegespräch zwischen Höllenschreien und verletzlichem Clean-Gesang hingeben. Genau dieses vertonte Duell bleibt die Konstante im Portfolio der vierköpfigen Band aus Donezk. Im Wesentlichen unterscheiden sich die Stücke darin, wie sehr sie jeweils eine der beiden Facetten in den Fokus rücken.

"Rogue" beißt so schnell und aggressiv zu, wie das Krokodil im gleichnamigen Horrorfilm. Insbesondere Hardcore-Stilmittel wie Beat- oder Breakdowns erschaffen das wohl wildeste Monster der Platte. "A Tongue To Sly" und "Dark Bile" legen genauso viel Wert auf die brachialen Qualitäten.

Dagegen zeigt sich "Someone's Daughter" ungewohnt gefühlvoll: "You teach me how to be a man / Though I am someone's daughter", reflektiert die Rollen, die Frauen im Zuge der Geschichte innerhalb einer von Männern dominierten Gesellschaftsstruktur einnehmen mussten. Der Song beschreibe einen feministischen Transformationsprozess von Naivität zu Weisheit, von Schwäche hin zu Stärke und der Freiheit, selbst bestimmen zu können, erklärte Shmayluk in einem Interview. Wenngleich das Thema weniger persönlich aufgearbeitet wird, so knackt der Exkurs dennoch eine ansonsten sperrige Schale.

Trotz einiger Songs mit Wiedererkennungswert strengt ein kompletter Durchlauf von "Duél" die grauen Zellen an. Sich im Sound der Ukrainer zurecht zu finden, kostet Kraft. Kein Snack für Zwischendurch also! Es braucht eine gewisse Neugierde, viel Wertschätzung für die starke technische Umsetzung und die organisch gehaltene Produktion, um die abschreckenden Barrieren zu überwinden. Dann schlägt die Freude über einen wilden Genremix abseits der Norm womöglich erst richtig durch.

Trackliste

  1. 1. Tantrum
  2. 2. Hedonist
  3. 3. Rogue
  4. 4. Tumbleweed
  5. 5. Green Serpent
  6. 6. Kafka
  7. 7. Dark Bile
  8. 8. Fast Draw
  9. 9. Someone's Daughter
  10. 10. A Tongue To Sly
  11. 11. Duél

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LAUT.DE-PORTRÄT Jinjer

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6 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 6 Tagen

    Für Metalcore schon schwer zu verdauen aber cool.

  • Vor 5 Tagen

    Die Entwicklung Jinjers zu mehr Technik und weniger Transparenz war schon absehbar. Ich werde mal reinhören. Glaube, das ist mehr als eine 3 wert. Dafür ist die Band schon viel zu gut.

    • Vor 5 Tagen

      Dieser Kommentar wurde vor 5 Tagen durch den Autor entfernt.

    • Vor 5 Tagen

      Wobei Songwriting - insbesondere atmosphärisches und immersives - ihnen tatsächlich bisher auf 5 Studioalben verstreut immer nur song-, nie albenweise gelingen mag, IMO. Der Sog von Isis, The Otolith (Danke nochmals für deinen Tip damals! ;) ) oder neuerlich eben auch Iress vermag nie mal über 2-3 Stücke anzuhalten... wobei das vielleicht auch einfach nicht Ziel dieser sich im Kontrastspiel der Vocals sowie im Studio und live - Gesang genauso wie Instrumente technisch in jedem Moment über alle Zweifel erhaben präsentierenden Ausnahmeband.

      Mag Jinjer ja trotzdem oder manchmal wohl eher gerade deswegen total, aber es ist halt eine andere Qualität von Liebe, die ich zur Bemessung gezwungen jedoch ähnlich wie Du vermutlich auch durchgängig im "Gehört. 4/5"-Feld ansiedeln würde als darüber oder darunter.

      Und Metalcore isses ja vong seinen eingepflegten Stilelementen (inzwischen) am allerwenigsten bzw. seltensten, ma sagen. :smug:

    • Vor 4 Tagen

      Mir kommt Progressive Metal mit Alternative-Vocals vielleicht eher in den Sinn.

  • Vor 5 Tagen

    Genremixe sind im metalcore nichts neues. Die Sängerin ist wild. Ich bin aber mehr fan von spiritbox

  • Vor 5 Tagen

    Schade, fast wärs hörbar für mich. Growlen klingt für mich immer konstant so als habe jemand Pink Noise laut in einen Track gemischt; es fügt keinem Song etwas hinzu, ist austauschbar und lenkt ab. Die Tracks mit anderen Vocals sind ganz brauchbar. Wie hier schon geschrieben, sind manche stärker, und andere halt meh. Für mich kein Grund, gleich ne ganze Platte zu hören.

    • Vor 4 Tagen

      Das sind die ganz besonders bitteren Momente im Leben. Wenn es fast fest geklappt hätte, aber nur ein Millimeter gefehlt hat. An diesen Situationen kann man immer am besten Resilienz erproben, sodass sich die nächste Millimeter-Entscheidung nicht mehr ganz so schmerzhaft anfühlt.

    • Vor 4 Tagen

      ... gilt selbstverständlich auch für Zentimeter...

    • Vor 4 Tagen

      Dieser Kommentar wurde vor 4 Tagen durch den Autor entfernt.

    • Vor 4 Tagen

      Growls etc fügen sehr wohl Tracks etwas hinzu. Dies zu negieren und als obsolet darzustellen ist nicht realistisch. Jedem das seine aber so nu nich'. Schade, fast wär's lesbar für mich ;-)

    • Vor 4 Tagen

      Das Wiesel growlt öfters mal den Iltis an, der in aller Regelmäßigkeit sein Spielbällchen an des Wiesels Bau vorbei schießt. Jener gackert dann im schnellen Nachgreifen zurück, bevor er von den Biberjungen davongejagt wird :).

    • Vor 4 Tagen

      ... vor allem beweist der Iltis stets sein Talent, das immer dann zu tun, wenn das Wiesel seine Passiv-Growl-Pausen nutzt, um sich mal kurz bei nem' Kaffee Gigi D'Agostino zu kredenzen. Ganz schlechter Zeitpunkt. Das nennt man dann wohl Passiv-Aktiv-Projektion.

    • Vor 4 Tagen

      Dieser Kommentar wurde vor 4 Tagen durch den Autor entfernt.

    • Vor 4 Tagen

      Kann in dieser Angelegenheit gleichermaßen garris wie auch ragis Sicht nachvollziehen bzw. anteilig sogar nachtiemofinden...

      ...als einige meiner heute noch besten Freunde in unserer ersten gemeinsamen Band mich Ende 98 / Anfang 99 endlich so ein bisserl aus der Trve- und Speedmetal-Sozialisation meines älteren Cousin heraus- und über Post-"Cowboys from Hell"-Pantera hin zu Sepulturas Cavalera-Brüder-Blütezeit hinführen wollten, da war der Weg von der "Vulgar.. " bis zur "Great Southern Trendkill" gefühlt nur ein Katzensprung... Aber Sepultura und auch viele andere extreme Musik-Acts, die v.a. auch in der Screamo-Hochzeit einfach nur des aggressiven Effekts wegen gebrüllt oder geschrien haben, kann ich bis heute nicht ernst nehmen. Provo nur der Provo wegen ist halt so dermaßen Rammstein Career Playbook...

      ...aber bei den Post Metal-Alben von Isis ab der "Oceanic"... In diesen growls steckt neben tadelloser Technik immer auch authentisch spürbar werdende, echte Verzweiflung. Ähnlich bspw. In Amenra, stellenweise bei Converge...

      ...das macht dir mich bis heute meistens den entschiedenden Unterschied. Wird da Aggro wegen dicker Hose oder zu erfüllenden Szenecode gegrowlt, oder weil da augenscheinlich dringend was raus müsste und der Griowler sich im Moment einfach nicht besser und näher bei sich selbst auszudr8cken wusste als durch die Growls auf diesem Album?

    • Vor 4 Tagen

      Fuck, Isis liebe ich auch sehr. Da schreibste wahre Worte.

      Absoluter Standard in gefühlt JEDEM Fall, wenn ich Growls höre, ist ein konstantes, undynamisches Ork-Gegrunze. Und wenn ich ununterbrochen angebrüllt werde, dann nehme ich das auch NULL ernst. Aggressiv, intensiv, heftig finde ich das gar nicht. Gibt es kein hell, gibts auch kein dunkel, so ungefähr.

    • Vor 3 Tagen

      Hamferd, anyone? :)

  • Vor 4 Tagen

    Dieser Kommentar wurde vor 4 Tagen durch den Autor entfernt.

  • Vor 4 Tagen

    Album gefällt mir ganz gut. Ihre vielleicht bislang roheste Aufnahme. Viel wütender, als ich die Band in Erinnerung habe. Die emotionalen Kontraste bündeln Jinjer in ein kompakteres, aber nicht unbedingt zugänglicheres Format. Die Tightness und die schönen Gesangsschleifen der Vergangenheit vermisse ich ein wenig, aber dafür ist das ein ganz anderes Biest. Da musste vielleicht tatsächlich mal was raus.