laut.de-Kritik
Joanna nackt im Wunderland.
Review von Matthias von ViereckVorhang auf für das besondere Werk: ein Triple-Album, drei Akte, drei CDs, 18 Stücke, 120 Minuten, 30 Seiten Booklet, eine Material- und Text-Fülle, aus der andere Künstler ganze Karrieren stricken würden, anmutige schwarz-weiß Fotografie, dazu ein Instrumentarium, das vom Piano über die Harfe, das Akkordeon und die elektrische Gitarre bis zur bulgarischen Tambura reicht. Kurzum: ein Gesamtkunstwerk, dem gerecht zu werden in einer wie auch immer langen Kritik kaum möglich scheint.
Und was macht Joanna Newsom zu Beginn ihres dritten Langspielers, dieser Anmaßung, dieser so unglaublichen Veröffentlichung? Sie nimmt uns erst mal ein wenig der Anspannung, der Angst: "Easy, easy" haucht sie uns ins Ohr, als ginge es darum, die Hörer in einen wohligen Schlummerschlaf zu singen. Obwohl Newsom, die immer schon irgendwo zwischen E- und U-Musik pendelte, auch mit diesem Dreifach-Album klassische Popformate weit hinter sich lässt, nähert sie sich doch zugleich im Kleinen, bei vielen der neuen Kompositionen, dem konventionellen Popsong recht stark an. Eine höchst spannende Dialektik.
Freilich schlägt sie damit alle Fräuleinwunder des Pop aus dem Feld: egal ob eine Natasha Khan (Bat For Lashes), Björk, selbst Soap & Skin. Künstlerinnen also, die der Kalifornierin in Sachen Extravaganz und Exaltiertheit kaum nachstehen. Deren Künste aber, das unterstreicht dieses Album, doch nur selten an die Komplexität einer Joanna Newsom heranreichen.
Zeigte das gemalte Cover ihrer zweiten CD, "Ys", Newsom noch in altmeisterlicher Dürer-Manier, so präsentiert sich das Wunderkind heuer (siehe auch: CD-Hüllen und Booklet) in kecker Lolita-Pose, wie von Balthus entworfen. Auch lassen die Goldenen Zwanziger grüßen. Allein die visuelle Inszenierung ihres doch eigentlich noch so knappen Oeuvres wäre längst für ganze Kunstgeschichts-Hauptseminare gut.
Joanna in Wonderland: auch das aktuelle Album strotzt nur so vor Tier-Metaphern, Natur-Impressionen: "big black spider", "lion", "rabbit", "black bear", "fox", "goldfish", von dem Pfau und dem Reh auf dem Cover mal ganz zu schweigen. Da will es nur recht passen, dass sich auch Newsoms Stimme bisweilen in gleichsam tierischen Bezirken bewegt. Etwa wenn sie in Singvogel-Art zu tirilieren beginnt: "Cuckoo, cuckoo". Herzallerliebst.
Dabei tönen die flankierenden Instrumente weniger orchestral als auf "Ys", so wunderbar das damals (2006) auch von Van Dyke Parks arrangiert war. Auf "Have One On Me" finden sich intimere, leisere Momente, geht einem Newsoms Organ nur noch selten so auf die Nerven wie bei "Ys" gern mal. Ihre Stimme mutet variabler, reifer an. Erschwerte bemühtes Kunstwollen einst den Genuss ihrer Musik, scheint sich Newsom heute auch in Pop-Nähe recht wohl zu fühlen. Die nachhaltigste Wirkung entfalten schließlich vor allem die Minuten, in denen nichts weiter zu vernehmen ist, als Newsoms Stimme und ihr so wunderbares Harfenspiel.
Zudem spielt sie hie und da geradezu befreit, ja beschwingt auf. Etwa wenn sie in "Soft As Chalk", dem Eröffnungsstück der dritten CD, fast in Boogie Woogie-Manier in die Piano-Tasten drückt. Auch das ein Gewinn: Von nun an wird man Newsom nicht gar so einfach mehr als entrückte Harfenistin abtun können. Nein, sie kann's auch am Klavier, wenn ihr hier auch sicher weniger Mittel zur Verfügung stehen.
Bei aller vermeintlichen Elfenhaftigkeit ihrer Erscheinung, allen außerweltlichen und, ja, auch mittelalterlich anmutenden Momenten ihrer Harfen- und Stimmkunst, scheint Newsom weiter denn je entfernt von allem Fantasy-Schmus: Vielmehr singt sie, ganz zum Ende des Albums, von "pretty dresses", "high-heeled shoes", "a sparkling ring, for every finger". Dass die Kalifornierin schon als Model posierte, weiß wohl längst auch die bunte Presse. Fast erleichtert stellt man nun aber fest: Auch bei Joanna Newsom ist nicht alles Innerlichkeit und tiefes Gefühl.
Immer schon erkannte die Kritik in Newsom auch das kalifornische Hippie-Girl, nun unterstreicht sie mit zwei wunderbaren Stücken, dass dem tatsächlich so ist: Da evoziert sie in "'81" Bilder von gleichsam paradiesischer Kraft: "I found a little plot of land, in the garden of Eden ... It was hotter than hell, so I laid me by a spring, for a spell, as naked as a trout". Nur um einige Stücke weiter hinten ihrem Heimatstaat gleich einen ganzen Titel zu widmen: "In California". Das lässt an Frontier-Mythen denken, an Klassiker wie Woody Guthrie, der einst sang: "California is a garden of Eden ..." Heimat sei ein großes Thema des neuen Albums verriet Newsom denn auch der Spex.
Was "Have One On Me", das ausufernde Opus Magnum einer großen Künstlerin, aber mit uns, dem Hörer, noch so alles anstellen, welche Emotionen Joanna Newsom noch in uns wach kitzeln wird, das wird sich wohl erst nach Jahr und Tag tatsächlich zeigen.
Der Vorhang zu und viele, verdammt viele Fragen offen. Als Rezensent muss man sich die Frage gefallen lassen, ob man denn noch ganz bei Sinnen ist, ob man sich nicht von der barocken Opulenz dieser Sirenen-Kunst einfach hat überwältigen lassen. Was aber soll man tun? Mit Wachs in den Ohren lässt sich schlecht über Musik schreiben ...
12 Kommentare
Ein neues Album wird auf 3 CDs, bzw. 3 LPs ab dem 23.2. 2010 erhältlich sein. Nach dem ausstaffierten und kontrovers diskutierten Ys setzt die Dame dieses Mal auf Minimalismus, zumindest beim Coverartwork. Auch der Song '81 ist generell ein wenig massenkompatibler, aber nicht schlecht, keineswegs!
Jetzt hoffe ich nur, dass das Album gut wird, sonst muss ich wieder Ys einwerfen.
Hier der Link zum Song und zum Cover:
http://www.dragcity.com/
http://www.dragcity.com/products/have-one-…
Disc One:
1 - Easy 06:04
2 - Have One On Me 11:02
3 - '81 03:51
4 - Good Intentions Paving Company 07:02
5 - No Provenance 06:25
6 - Baby Birch 09:30
Total: 43:54
Disc Two:
1 - On A Good Day 01:48
2 - You And Me, Bess 07:12
3 - In California 08:41
4 - Jackrabbits 04:23
5 - Go Long 08:02
6 - Occident 05:31
Total: 35:37
Disc Three:
1 - Soft As Chalk 06:29
2 - Esme 07:56
3 - Autumn 08:01
4 - Ribbon Bows 06:10
5 - Kingfisher 09:11
6 - Does Not Suffice 06:44
Total: 42:31
Joanna Awesom bringt wieder eine scheibe raus?
Die erwartungen sind unglaublich hoch..
@Affenkoenig (« thx.
täuscht das, oder ist die charakteristische quietsche-ente in ihrer stimme spürbar zurückgegangen? zumindest bei diesem lied. »):
War auch mein erster Gedanke!
jetzt auf einmal kann ich zum ersten mal kommentieren. sehr seltsam.
naja, ich fand Ys schon hammer und drei cds mit dieser art von musik und vor allem diesem speziellen storytelling sind meine blind-bestellung wirklich wert gewesen.
nur irgendwie komisch, dass viele 5sterne platten nie platten der woche/des monat werden
das flasht mir hier gerade aber mal wirklich den Kopf auf. fantastisches Ding, ich bin verzaubert.