laut.de-Kritik

Technologie als Nährboden für Wärme, Leben und Emotionen.

Review von

Während sich die Türkei auf dem Taksim-Platz die Köpfe einschlägt, Koalas vom Klimawandel bedroht sind, Afrika weiterhin unter Hunger und Entbehrung leidet und selbst Deutschland unter einer zum Teil selbst verschuldeten Flut versinkt, veröffentlicht ein Engländer ein Konzeptalbum über eine Partynacht. Eine Botschaft, die in ihrer Einfachheit und Dekadenz kaum zu überbieten bleibt. Wer kein Leid erfährt, hat keine guten Geschichten zu erzählen. "We Disappear".

Jon Hopkins musste nicht einmal verschwinden, für die meisten war der Mann aus der zweiten Reihe einfach niemals da. Seine drei ersten Solo-Platten flogen unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung entlang. Wer genau aufpasste, kennt seinen Soundtrack zum Science-Fiction-Drama "Monsters" oder seine Mitarbeit an Brian Enos "Small Craft On A Milk Sea" und Coldplays "Viva La Vida Or Death And All His Friends".

Mit "Immunity" verlässt Hopkins seine Schutzzone. Seinen vierten Longplayer bezeichnet er als "das menschlichste elektronische Album, das es dieses Jahr zu hören gibt." In einem Jahr, in dem Daft Punk ("Random Access Memories"), Bonobo ("The North Borders") und Boards Of Canada ("Tomorrow's Harvest") einen ähnlichen Ansatz verfolgen, eine gewagte These. Große Klappe mit viel dahinter.

Im Gegensatz zu den Helmträgern von Daft Punk bricht Hopkins den Konflikt Mensch-Machine nicht mit einer in den Rückspiegel schauenden Rückbesinnung auf Live-Instrumente. "Objects in the Rear-view mirror may appear closer than they are". Anstatt sie von sich zu stoßen, akzeptiert und nutzt er die uns allgegenwärtig umgebende Technologie als Instrument, aus der er Wärme, Leben und Emotionen bezieht. Nicht die Welt von gestern sondern die heutige mit all ihren Applikationen wird zum Grundstein seiner minimalistischen Musik.

Die erste Hälfte von "Immunity" gilt dem Start in die Nacht. In "We Disappear" setzen wir die ersten nervösen Schritte hinaus auf die Straße, keinen Schimmer, was vor uns liegt. Frisch geduscht schlagen wir die Tür zum Alltag hinter uns zu. Die Dancefloor-Hyme "Open Eye Signal" nimmt uns mit ihrer wütenden Electro-House Bassline in Empfang. Entschlossene Euphorie, dominiert von reibenden Sub-Bässen und Techno-Beats. Über hypnotischen Schleifen der Erschütterung nimmt das düstere "Collider" Gestalt an. In die Irre führende Leidenschaft, die monoton an ihrem Ziel festhält: Rhythmus vs. Melodie.

In der zweiten Hälfte wechselt die Stimmung zunehmend. Ambient-Parts nehmen zu. Während die Welt in ihrem verschwommenen Zauber weiter tanzt, wandelt man selbst mehr und mehr zum entrückten Beobachter. Ein unscharfer Blick durch den faul riechenden Nebel der Nebelmaschinen auf die tanzende Meute.

Zeigt sich Hopkins kurz vorher noch von seiner düsteren Seite, wirkt das zwölf Minuten lange "Sun Harmonics" klar und mit Morgentau überzogen und leitet langsam das Ende der Reise ein. Ein Moment der Trance, des Abschiednehmens. Eine leere Bierflasche an dem letzten torkelndem Liebespärchen vorbei ins nichts kicken um danach mit zusammengekniffenen Augen ins erste Sonnenlicht zu treten. Diese kurzen Momente, die eine lange Nacht erst vollkommen machen. "Alle Lebewesen außer den Menschen wissen, dass der Hauptzweck des Lebens darin besteht, es zu genießen." (Samuel Butler) Also doch alles richtig gemacht?

Der Titel-Track nimmt über wankenden Zugabteil-Beats den Weg nach Hause. Der alte Weggefährte Kenny Anderson (King Creosote) übernimmt diskret den Platz am Mikro, während Hopkins verträumt in Sigur Rós-Erzählgeschwindigkeit die ersten Lichtreflektionen auf seinem Piano nachklimpert. Das letzte Adrenalin verfliegt. Einfach nur noch nach Hause. In die Nussschale unserer Gesellschaft. Ins kuschelige Bett. In Sicherheit. In Immunität. "Immunity".

Trackliste

  1. 1. We Disappear
  2. 2. Open Eye Signal
  3. 3. Breathe This Air
  4. 4. Collider
  5. 5. Abandon Window
  6. 6. Form By Firelight
  7. 7. Sun Harmonics
  8. 8. Immunity

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