laut.de-Kritik

1A-Handwerk küsst Intensität.

Review von

Jonathan Jeremiah zieht für "Horsepower For The Streets" ("Pferdestärken für die Straßen") reichlich Unterstützung hinzu: Streicher, vordergründige Background-Sängerinnen und eine Filmmusik-Intensität, die sich nostalgisch bei John Barry bedient. In den Klimax-Bögen mit atemberaubender Percussion jagt ein Höhepunkt den nächsten. Der fünfte Longplayer des Londoners setzt vieles fort, was man von dem anachronistischen Songschreiber kennt, perfektioniert es und ist ein intensives Schauspiel.

Mit seinem Barockpop-Folksoul machte Jeremiah sich insbesondere in Frankreich einen Namen, wo Artists wie Ayo zeitgleich mit ihm in ein ähnliches Horn stießen, wo er oft und lang tourte und auch die finale Inspiration zu dieser Platte fand. Wie er bei PIAS die Freiheit für das extrem üppig und edel produzierte "Horsepower For The Streets" ergatterte, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Jedenfalls nutzt er sie sehr gut. Die stimmungsvolle Platte enthält wenige stille Momente. Sie fungieren vor allem als Ruhe vor und nach dem Sturm, wenn mit "Early Warning Sign" eine abgespeckte Piano-Ballade zum Durchatmen läuft und mit "Lucky" und "Ten-Storey Falling" zwei überwiegend von Akustikgitarren und Drums getragene holzigere Stücke. Alle anderen Tracks - und auch diese beiden an ihren jeweiligen Enden - greifen auf eine orchestral-symphonische Aufmachung mit Cinemascope-Radius zurück.

Dabei stechen mehrere vorzügliche Seelen- und Ohrenschmeichler hervor: "Youngblood" mit prallem Elan oder das sambasoulige "Small Mercies", das Kiwanuka-artige Titelstück "Horsepower For The Streets" oder das ebenbürtige und äußerst opulente und orchestrale "Cut A Black Diamond" und "Lucky", das Michaels Afro-Soul gut pariert. Eine Konzertagentur schreibt über den Storyteller, er decke fundamentale Themen ab, "Liebe, Verlust, Zweifel und alles, das uns bewegt" und verkörpere dabei die zeitlose Idee "des nomadisch umherziehenden Troubadours mit einer vertrauenswürdigen Akustikgitarre". Das ist sehr gut und treffend formuliert.

Dass Etliches von der Platte in Frankreich geboren wurde, glaubt man sofort, hört man die Nähe zum Chanson in "You Make Me Feel This Way". Die 'Pop Noir'-Aura in "The Rope" geht mit ziemlicher Sicherheit anteilig auf die Yé Yé-Beatmusik von Francoise Hardy und Kolleg*innen in den analog aufnehmenden Tonstudios der Sixties zurück. Heute muss man offenbar schon wie Jeremiah in eine große Kirche einziehen, um einen vergleichbaren Sound einzufangen. Das Gotteshaus fand er in Amsterdam, so dass man schon von einem europäischen Album sprechen kann.

Während die Plattenfirma selbst die CD als Konzeptkunst einstuft, sticht der Hammer-Tune "Youngblood" ganz besonders heraus, und der reift mit dem Älterwerden. Der Auftakt mit dem seltenen Stilmittel des Fade-In wirkt unscheinbar leise, aber macht auch neugierig. Die energische Percussion, die dann einsetzt, strahlt die verpflichtende Verbindlichkeit einer Marschtrommel aus, und sie drückt auch das Rauslassen von Schmerz aus - wie alles hier, glaubt man den Produkt-Infos, aber da ist schon was dran. Denn bereits die bis zu dieser Stelle vorgetragenen Texte verfolgen mitunter einen morbiden Charme und führen paranoide Ausweglosigkeit vor, Gefangenschaft, das Gefühl, einen Kurs weiter zu steuern, der zwar falsch ist, aber dessen man sich nicht erwehren kann - außer man schneidet die Düsternis aus dem eigenen Inneren heraus: "Gotta cut that black diamond out / Leave it in the deep and come alive / Black diamond is my restless heart (...) Gotta cut a black diamond out of me (...) Gotta grab ahold of what's ruling me". Klingt ansatzweise schizophren oder nach LSD-Trip.

Jedenfalls kippt die vom Flausch der soulig-wohligen Form gestützte Fassade, nachdem sie sechs Tracks lang trotzte, sie bröckelt, und die Schwerkraft bricht sich im siebten Song Bahn. Denn man weiß in "Youngblood" nach ein paar Takten, wo's lang geht, als hätte man sich leichtsinnig einer Bergwanderung angeschlossen, voller Horsepower. Dringt man tiefer vor, gibt es kein Zurück mehr: Der unablässig klackende Kickdrum-Beat treibt in einen Hypnose-ähnlichen Rausch, man muss diesem Rhythmus unweigerlich und willenlos folgen. Es klingt zwar ein bisschen hart und unkomfortabel im Ohr, wie der Schlagzeuger einpeitscht, aber ein Abbruch steht nicht zur Debatte, im Gegenteil: Kommt man mal in den Tritt des Liedes, wird die Stille im plötzlich einsetzenden Fade-Out bedrohlich, denn der betäubende Orchester-Lärm tat irgendwie gut. Auch auf die Gefahr hin, dass es anstrengt, muss man zum Anfang des Tracks zurück, um sich nur ja nicht mit der Stille danach auseinander zu setzen.

Der Text zitiert in diesem Lied die Titelzeile "Horsepower For The Streets", wie auch "Restless Heart" das Motiv der Rastlosigkeit aus einer Zeile von "Cut A Black Diamond" aufgreift, was alles formal wiederum den Anspruch des 'Konzeptalbums' stützt. Die Handlung spielt in der Nacht. Jonathan malt mit roter Farbe, passend zum Artwork des Plattencovers. Sie steht für Flammen, und zwar doppeldeutig: "Youngblood", junges Blut, hat etwas entzündet, aber diese Feuerherde wirken bedrohlich und sind schwer auszulöschen. Es formt sich ein rot leuchtender Himmel. Neben den Flammen eines Brandes sind die der Leidenschaft hier heraus zu lesen und in der engagierten, dramatischen Musik zu spüren. Surreal, wie der Frankreich-Reisende das Lied dichtet, tanzen Seehunde auf der Straße und kämpfen dort.

Besonders schön glückt die Strophe "Tränen regnen herunter wie Hagel / 'Die Zeit ist reif. Reif für die Revolution.', flüstern zwei Liebende einander zu. / Boote, die in der Ferne festgebunden sind, fahren los / und formen mit ihren Silhouetten einen rot leuchtenden Himmel / Hungrige Teufel graben entlang einer Spur und ziehen Richtung Hang. / Oh, was für eine Nacht. / Ich spüre einen Hauch vom Tag. / Oh ja, er rückt näher / heller als du es je gesehen hast." Unglaublich fantastisch harmonieren auch die fragilen und ausdrucksstarken Vocals Jonathan Jeremiahs in "Restless Heart" mit dem Background-Chor. Es ist ein Spagat aus Sicherheit und Zerbrechlichkeit, den diese Platte balanciert, und dieses Spiel büßt die ganzen 39 Minuten kein Quäntchen an Reiz ein.

Trackliste

  1. 1. Horsepower For The Streets
  2. 2. You Make Me Feel This Way
  3. 3. Cut A Black Diamond
  4. 4. Small Mercies
  5. 5. The Rope
  6. 6. Restless Heart
  7. 7. Youngblood
  8. 8. Ten-Storey Falling
  9. 9. Early Warning Sign
  10. 10. Lucky
  11. 11. Sirens In The Silence

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Jonathan Jeremiah

Wer sieben Jahre braucht, um sein Debütalbum fertigzustellen, der hat entweder die berühmte Ruhe weg oder eine ausgeprägte Veranlagung zum Perfektionisten.

6 Kommentare mit 6 Antworten