laut.de-Kritik
Beziehungsstatus: Es ist kompliziert.
Review von Sven Kabelitz"All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater / All ihr Forums-Vollschreiber, all ihr Schreibtischtäter / All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen / All ihr Bibel-Zitierer mit euer'm Hass im Herzen / All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner / All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer / Kommt zusammen und bildet eine Front / Und dann seht zu, was kommt." (Marcus Wiebusch - "Der Tag Wird Kommen" - 2014)
Sie taten sich zusammen und bildeten zuerst in Dresden und dann in ganz Deutschland eine Front. Sie nennen sich "Volk" und "Wir". 2015 sahen sie in der stark steigenden Zahl der Geflüchteten ihre Chance, rückten von Tag zu Tag immer noch deutlicher nach rechts. Seitdem sahen sie entspannt zu, wie der Rest Deutschlands über jedes Stöckchen sprang, dass sie ihm hinhalten. Bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 kamen sie auf 12,6 Prozent. Ihre Themen bestimmen heute Presse und Politik. Sie bilden nun die "Wagenburg". "Ein Wir ist Volk, Nation, Gesinnung / Ist Gang, ist Mob und hängt Verräter / Ein Wir will öffentlichen Raum / Ein Ich will seinen Teil vom Kuchen / Überall besorgte Bürger, die besorgte Bürger suchen."
Diese "Wagenburg" sah, was kam, und es war Chaos, das bis heute keinen gemeinsamen und vernünftigen Weg gegen den um sich greifenden Rechtsextremismus gefunden hat. Wie kopflose Hühner spielen wir die Entwicklung Österreichs im Zeitraffer nach. Der versprochene Tag scheint in so weiter Ferne zu liegen wie lange nicht mehr. Gegen dieses neue Wir braucht Wiebusch nach "Konfetti" nun wieder seine eigene Gemeinschaft, sein eigenes Wir, sein Kettcar.
Die fünf Hamburger klingen, wie Kettcar eben klingen. Nach dem kraftlosen "Zwischen Den Runden" (2012) verschwanden sie ins Ungewisse und fehlten nicht einmal. Ihre Geschichte schien nach den Großtaten "Du Und Wieviel Von Deinen Freunden" und "Sylt" auserzählt.
"Ich Vs. Wir" umweht nun etwas Spießiges, Vertrautes, in dem man sich sofort wohlfühlen und verlieren kann. Diese vier Wände hat seit 2002 niemand mehr neu gestrichen. Überraschungen gibt es keine. Man weiß, wohin sich die Songs entwickeln, welche Abzweigung Wiebuschs Stimme nimmt. Man kennt ihre Dynamik, weiß, wann die verzerrte Gitarre einschlägt, und kann jeden Akkordwechsel von Weitem erahnen.
Musikalisch ist dies ein weiteres unnötiges Comeback aus Hamburg im Stil der Beginner und Fünf Sterne Deluxe. Was zur Jahrtausendwende noch dem Zeitgeist entsprach, klingt heute ungemein zopfig. Aufgeräumter Ikea-Rock für semirevolutionäre Mitvierziger, die nun auch endlich entspannt Worthülsen wie "Das war noch Musik!" von sich lassen dürfen. Vergessen Sie auf dem Weg nach draußen bitte nicht, noch ein paar Kerzen einzupacken.
Für den eigentlichen Bruch zu den Vorgängeralben sorgen Wiebuschs deutliche, politische Texte, die mehr zu einem ...But Alive als zu einem Comback der befindlichkeitsfixierten Kettcar gepasst hätten. Ihre linke DNA konnte man diesen zwar jederzeit anhören, doch auf "Ich Vs. Wir" positioniert sich die Band so deutlich wie noch nie.
Ließ sich Marcus auf "Du Und Wieviel Von Deinen Freunden" Zeit für ausschweifende Geschichten und Bilder, die oft erst mit dem letzten Teilsatz auf den Punkt kamen, unterstreicht er nun jedes seiner deutlichen und schnell zum Ziel findenden Worte, in dem er entschlossen mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte klopft. Poch. Poch. Poch.
Im besten Moment führt die Mischung aus vertrautem Klang und neuer Entschlossenheit dank der herausstechenden Vorabsingle "Sommer '89 (Er Schnitt Löcher In Den Zaun)" zu einer Gänsehaut nach der nächsten. Diese Erzählung nimmt in ihrem Verlauf verschiedene Perspektiven ein, kommt ohne Schwarz und Weiß aus, es geht dem Protagonisten letztendlich nur darum, Menschen zu helfen. Ein Zeitkommentar zur Massenflucht aus der DDR und über Menschen, die sich für einen Moment ohne sich zu kennen beistehen, der sich ohne große Anstrengung auch auf unsere gegenwärtige Entwicklung umsetzten lässt. Die perfekte Symbiose aus Spoken Words und mitreißendem Refrain.
Das Versprechen, dass das Stück gibt, hält "Ich Vs. Wir" nicht ein. Dass endlich Musiker zu der uns alle umtreibenden Thematik deutlich Stellung beziehen, war überfällig. Die "Grapefruit" zur Hand, schleimen sich die Befindlichkeitsepigonen im Radio mit mutmachenden Carpe-Diem-Liedern wie "Hundert Leben", "Wir Sind Groß" oder "Herzbeben" mit Nichtigkeiten zu. Bloß keine Farbe bekennen, bloß keine Käufer verlieren. Kommerzielles Mitläufertum, wohin man schaut.
In Fußballsongs wie Giesingers "80 Millionen" werde ich ungefragt mit fahnenschwenkenden Menschen in einen Topf geworfen, mit denen ich nichts zu tun haben mag. Denn zu ihnen gehören auch jene, von denen Kettcar in "Mannschaftsaufstellung" singen. "Wir bilden eine Mauer, machen alle Räume dicht / Mit einem Populisten, der durch die Abwehr bricht / Ein Stammtischphilosoph im rechten Außenfeld / Die Doppelsechs, die alles Fremde ins Abseits stellt / Einen Nationalisten als hängende Spitze / Zwei, drei Mitläufer für rassistische Witze / Für die Standards einen, der zuschlagen kann / Und die schweigende Mehrheit als zwölfter Mann." In diesem Umfeld wirkt das finalen Resümee des Stücks regelrecht befreiend: "Liebling, ich bin gegen Deutschland!"
Auf der anderen Seite erdrückt der sich nahezu über das ganze Album ziehende Inhalt "Ich Vs. Wir", wird gleichzeitig zur Antwort wie zum Problem. Wiebusch stellt nach "Sommer '89 (Er Schnitt Löcher In Den Zaun)" kein zweites Mal einen direkten Bezug zu seinen Figuren her, erzählt keine weitere aufwühlende Geschichte. Vieles bleibt zweidimensional, die Herangehensweise kopiert sich in Dauerschleife. Auch "Ankunftshalle", das sich bei der Eingangsszene des Films "Love Actually" bedient, kommt nicht ohne Seitenhieb aus. Die dringend nötige Entspannung bietet die zurückgenommene Melancholie von "Trostbrücke Süd".
Kettcars fünfter Longplayer vertont die linksorientierte Facebook-Filterblase, in der ich mich auch gerne bewege. Da die Band einen Großteil ihrer Fans ohnehin bereits aus diesem Bereich zieht, dürfte die Anzahl derer, die die Texte zum Nachdenken bringen und gegebenenfalls politisch umstimmen, sehr gering ausfallen. Für sie fehlt es an Berührungspunkten. Interessante neue Perspektiven oder gar Argumente, die man nach rechts rückenden Menschen mit auf den Weg geben kann, fehlen. Alles hier hat man so oder so ähnlich in den letzten zwei Jahren bereits oft gehört und ausgiebig diskutiert.
Dies führt zwangsläufig zu der Frage, was "Ich Vs. Wir" überhaupt bringt. Aber vielleicht brauchen wir linksgrünversifften Gutmenschen in dieser zunehmend kälter werdenden Welt auch einfach ein wenig gegenseitige Bestätigung. Ein wenig Wärme, ein wenig Gruppenkuscheln und Nasen-aneinander-Reiben, um zu merken, dass wir nicht alleine sind. "Von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen", denn "what's so funny about peace, love and understanding". ("Den Revolver Entsichern")
Zu gerne würde ich "Ich Vs. Wir" wegen der alten Kettcar-Zeiten und der meine Meinung über weite Strecken unterstreichenden Texte vom ganzen Herzen lieben. Doch das Comeback gerät thematisch top, in der Umsetzung zeitweise nur mittelprächtig und musikalisch über weite Strecken langweilig. Am Ende stelle ich unseren Beziehungsstatus ernüchtert auf "Es ist kompliziert".
Epilog:
Oft sind es kleine, unstimmige Details, die eine Erzählung kurz stolpern lassen. Auch "Sommer '89 (Er Schnitt Löcher In Den Zaun)" kommt nicht ohne Unstimmigkeit aus. "In Mörbisch am See checkte er in die Pension Peterhof ein / Kaufte sich einen Döner und wartete auf die Nacht." Für einen Großstädter wie Wiebusch wohl kaum vorstellbar, kamen Döner erst zu Beginn der 1990er in Kleinstädten auf. Ganz investigativer Journalist auf einer heißen Spur, setzte ich mich direkt nach der Veröffentlichung der Single mit der Facebookseite der österreichischen Gemeinde in Verbindung, die auch zügig antwortete: "Wir haben uns bei der Pension Peterhof und diversen mörbischen Einwohnern erkundigt. Nein, einen Dönerladen gab es bei uns nie. Es war wohl eher eine Leberkässemmel." Somit haben wir das an dieser Stelle auch geklärt.
14 Kommentare mit 17 Antworten
Die Döner-Anekdote drückt exakt das aus, was an Kettcar scheiße ist. Ganz viel Wollen, ganz wenig Können. Next.
Sie können auf jeden Fall einen erstklassigen Song über die aktuelle Flüchtlingsthematik schreiben, ohne das diese darin auch nur einmal explizit erwähnt wird. Sich da über den Döner aufzuregen ist schon extrem nerdig. In etwa so wie die Anmerkung, dass man im Weltall ja garkeine Geräusche hört, während man einen Star Wars Film sieht.
schreib mal nen song und schick mir den link, bin gespannt, was kommt
Meine Aussage war nicht wörtlich zu verstehen.
@Alinchen bin gespannt wie viele Songs die Laut Redaktion schon rausgehauen hat? Und schreiben dürfen die trotzdem was sie wollen
nicht schlecht das Album, vor allem die ersten Tracks. 3,5/5.
Schaut euch mal die neue Kronos Quartett an, die ist richtig stark.
Promotexte zerflücken und ansonsten sich für einen goßen Journalisten halten, ein Satz reicht um Sven zu beschreiben. Keine Kunst, klar, aber näher an der Wahrheit als die Rezi hier oben. Fantasie geht ihm gänzlich ab, fehlt ihm wohl die Frau die singt.
Auf Englisch sicher erträglich
Wurde auf laut nicht rezensiert und kann ich empfehlen: Belgrad
https://www.youtube.com/watch?v=QyMIRC0Fhcg
https://www.youtube.com/watch?v=HgMBkxYVDW0
Ja, was erwarten wir von Kettcar 2017? Ich mit Sicherheit weniger als der Rezensent. Dass die Texte einen Hörer politisch umstimmen könnten? Sicherlich nicht. Weder heute noch damals (als alles besser war). Etwas entspannter rangehen, dann bekommt das Album auch seine vier verdienten Sterne.
P.S. Die Dönerstelle hat mich auch stutzig gemacht. Sehr nett, dass der Rezensent sich da ins Zeug gelegt und nachgefragt hat. Aber auch hier gilt: Es gibt Wichtigeres als Wiebusch & Co in diesem Punkt zu überführen.
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