laut.de-Kritik
Der zeitgenössische Straßenrap-Prototyp fürs Jahr 2019.
Review von Timm LechlerEchte Straßenrap-Fans werden Kianush spätestens seit seiner zweiten Platte "Instinkt" in den oberen Rängen der Genrekünstler ansiedeln. Ein Rapper auf den das Prädikat underrated passt, wie die Faust aufs Auge. Ob sich der Life Is Pain-Member mit der verfluchten dritten Scheibe nun endgültig ganz oben etablieren kann, wird "Safe" zeigen.
Nach einer ruhigen Einführung ins Album gibts die poppige Vorab-Single "Rückkehr" mit einer catchy Hook auf die Ohren. Lyrisch ein Blick in die Zukunft und eine Abrechnung mit der Vergangenheit.
Der nächste Track "Jackpott" zeigt dann spätestens die Straßenrap-Richtung in die es gehen soll:
"Ling-Pao zeigte mir die Kung-Fu-Technik, Boots fressende Crews testen, drücke den Boost, Baby/
Zu heftige flutwellen-artige Zustände, Tourette-Syndrom-beladene Attitudebestie/ Du könntest in meinem Viertel nicht mal einen Fuß setzen, elektronische Fußfesseln und Bulletproofed-Westen/ Booth-brechende Moves, fressen diese Cartoon-Rapper, Blutflecken auf deiner Louis-Vuitton-School-Jacket/ Fußbälle-ballernder-Goalgetter der Food-Challenge, Mega-Set mit Full-Settings im Blue Level/ Zu fettes Fruity-Loops-Packet mit Boom-Bässen, Wu-Tang, den YouTube-Channel auf meiner Flugstrecke/ Spul’ direkt wieder den boom-bangenden Supertrack, Im Q7 zurück, der Leutnant im Puma-Dress/ Computer-hackender Motherfucker mit Laptop, knackt den siebenstelligen Code – Digga, Jackpot!"
Word. Das nennt man dann wohl die berüchtigten mehrsilbigen Nomen-Reim-Ketten. Das man diese Art im Jahr 2019 noch in freier Wildbahn antrifft, grenzt an ein Wunder. Das schnelle Geflexe gibts auf ein Kopfnicker-Brett mit Synthie-Loop produziert von Chrizmatic. Ein erstes großes Highlight von "Safe". Das hier textlich nicht alles unbedingt Sinn ergibt, ist dann auch egal. Der zweite Part steht dem erstem lyrisch übrigens in nichts nach.
Darauf folgen muss der obligatorische Label-Representer des LiP-Camps. Zusammen mit Boss PA Sports und Mosh36 "zieht Kianush dir dein Geld ab und gibt dir "Push"-Kicks." Auf "Rollin" gibt sich Kianush dann allein die Ehre ein Doubletime-Flow-Feuerwerk abzufeuern. Raptechnisch ganz großes Kino. Garniert wirds mit der dritten oder vierten Ohrwurm-Hook der Platte, und das auf einem so straßenrap-lastigen Album. Kianush sucht hier zweifellos nach Seinesgleichen. Selbiges bietet auch "Selfie", mit dem Life Is Pain-Wunderkind-Signing Jamule, der hier eine R'n'B-Hook zum Besten gibt.
Mit dem "5 Kugeln Skit" zitiert Kianush den Luniz Klassiker "I Got 5 On It" und macht aus einem Skit einen dreiviertel Song. Einfach ein Ehrenmann der Typ. Den zeitgenössischen Liebessong gibts dann mit "Du und Ich". Karibische Vibes, tiefsinnige Zeilen wie " Du und ich sind wie Bonnie und Clyde, du bist fresh wie Gin-Tonic auf Eis" samt Autotune-Refrain und le-le-les. Ein Song auf den man hätte verzichten können, dennoch nicht ganz so peinlich wie bei anderen Genre-Kollegen, die damit z. T. ganze Alben füllen.
"Flieg" gibt den ruhigen Einzelgänger-Representer. Genau auf solchen Tracks packt Kianush seine Stärken aus: Musikalität und lyrische Begabung, ohne bei ruhigeren Songs peinlich zu wirken oder die Street-Credibility in Frage zu stellen. Mit "So Jung" folgt eine weitere poppige Nummer. Hauptproduzent Chrizmatic sampelt hier die Melodie von "Lose Yourself" von Justin Bieber und kreuzt sie mit den tanzbaren Elementen aus Taio Cruz' "Dynamite". Kein Totalausfall, aber zweifelsohne einer der schwächeren Tracks der Platte. Als Single für die breite Masse ist das aber sicherlich eine gute Idee.
In "Millionen" gewährt uns Kianush mit der GoPro einen Einblick in die Beschaffungskriminalität: "Stell dir vor, ich trag' 'ne GoPro am Kopf und du siehst alles, In Full-HD, du wirst nervös und deine Knie wackeln/ Nimm die Knarre, lade durch und komm mit mir, zieh die Maske richtig runter, Mann, wir lösen nur Konflikte/ Drei, zwei, eins, trete die Tür wie die Bullen ein, vor dem Komma müssen locker fünf oder sechs Nullen sein." Das Album endet wenig später mit dem orchestralen und motivierenden "Gegen Den Rest". Nach 50 Minuten ein etwas zu bedeutungsschwangerer Abschied mitsamt Krieger- und Tiger-Anspielungen.
Kianush erhält auf "Safe" trotz eines 16-Songs starken Longplayers mit wenigen Feature-Gästen stets die Abwechslung. Das Album strotzt nur so vor Facettenreichtum und ist thematisch vielseitig aufgestellt, auch wenn die Krieger-Allegorien prominent platziert wurden und nie vergessen wird zu erwähnen, dass "Mama stolz ist" und früher "alles besser war", und dass, obwohl man von "ganz unten kommt". Aber so klingt echter Straßenrap eben auch noch im Jahr 2019. Obendrauf gibts eine erstaunlich hohe Anzahl an Ohrwurm-Hooks und das Ganze ohne inflationär eingesetzte Adlibs. Die dritte Platte des Iraners ist ein abwechslungsreich konzipiertes Solo-Album und könnte durchaus zum Straßenrap-Klassiker avancieren.
2 Kommentare
Klingt vielversprechend /höre mal rein
Ah, bei der Spotifyversion sind 20 Bonustracks dabei, deswegen 36 Anspielstationen. Dann muss ich meine Kritik der Länge revidieren. Wie bereits gesagt, hat mir gut gefallen, ein paar Songs ein bisschen zu kitschig, ein paar Songs richtig gut. 3/5 bis 4/5.