Soul ist definitiv Vokalmusik. Und zwar "afro-amerikanische Unterhaltungsmusik", die in den 50ern aus dem Rhythm'n'Blues und Gospel (eine Prise Jazz und Blues ist auch dabei) entsteht. Der Einfluss des Soul auf die Entwicklung der westlichen Popmusik ist bis heute unüberhörbar. Generell zwar noch in den Kategorien R'n'B/Black Music und Pop gedacht, gibt es inzwischen genug Beispiele in denen die Grenzen bis ins Unkenntliche verschwimmen.
Das größte Stilmerkmal des Soul ist bis heute der herzergreifende Gesang. Sich aus vollem Herzen und mit ganzer Seele der Musik, den Vibes, der Message hinzugeben, ist die Devise. Und da die Weißen nicht gerade als expressive Gefühlsschleudern gelten und Schwarze tendenziell über einen, traditionell begründet, einfacheren Zugang zu Spirituals und Gospels verfügen, sind Soulmusikerinnen und -musiker eben häufig schwarz.
Ray Charles ist die Ikone. In seinem Windschatten folgen James Brown, Aretha Franklin und Wilson Pickett. Ihren Höhepunkt erlebt die Soulwelle während der 60er. Um 1966/1967 bestimmt die "schwarze Popmusik" vorübergehend den internationalen Musikmarkt. James Brown hat mehrere Hits und Aretha Franklin ist von 1967 bis 1970 die erfolgreichste schwarze Künstlerin ("I Never Loved A Man (The Way I Loved You)", "Respect", "Baby I Love You", usw.). 1969 trägt man dem großen Erfolg der schwarzen Popmusik Rechnung und benennt die Rhythm'n'Blues-Charts in Soulcharts um.
Der Soul-Tsunami, der damals in den weißen Popcharts tobt, ebbt jedoch wieder ab. Die nächste Flut kommt während der 70er, als sich die Produzenten dem weißen Geschmack energischer anpassen. Unter dem Label Phillysound genießt der neue Stil in den 70ern erneut Hitparadenehren. 1982 wird die Chart-Bezeichnung von Soul in Black Music geändert. Zu diesem Zeitpunkt hat der Soul seinen Platz in der Musikgeschichte längst erobert.
Erstmals taucht der Begriff Soul in den 30er Jahren im Zusammenhang mit Gospel-Gruppen auf. Die Soul Stirrers legen ein frühes Zeugnis ab. Erst in den 50er Jahren setzt sich der Begriff durch, wird aber zunächst häufig im Jazzkontext verwendet. Denn nach dem nervösen und komplizierten Bebop und dem unterkühlten Westcoast-Jazz, findet bei den jungen afroamerikanischen Jazzmusikern eine Rückbesinnung auf ihre musikalischen Wurzeln statt.
Sie verwenden in ihren Stücken Gospel und Blues-Einflüsse. Pionier der als Soul-Jazz oder Hardbop bezeichneten Richtung ist Horace Silver, dessen frühes Stück "The Preacher" stilprägend ist. Gleichzeitig fangen Rhythm'n'Blues-Musiker an, Elemente des Gospel in ihre Musik zu integrieren. Vorreiter ist Clyde McPhatter. Für den Durchbruch sorgt jedoch Ray Charles. Seine Songs sind es, die ab Mitte der 50er die Hitparaden erobern. Seine Songs sind es, die Geschichte schreiben. Und seine Songs sind es, die die Zeit überdauern.
Melodische Gospel-Motive gehören bei allen Liedern zu den Zutaten. Ray Charles' frühem Hit "I Got A Women" (1955) liegt beispielsweise der traditionelle Gospel "My Jesus Is All The World To Me " zugrunde. Lediglich der Austausch der religiösen Textinhalte durch weltliche (sprich: die Liebe zu Gott durch die Liebe zu einer Frau) unterscheidet Original und Soulversion. Erst als Ende der 50er die Loslösung von der direkten Übernahme eines Gospelsongs gelingt, schlägt die Geburtsstunde dessen, was unter Soul in die Musikgeschichte eingeht. Daran ist neben Ray Charles auch Sam Cooke und der Godfather wesentlich beteiligt.
Auf politischer Ebene kristallisiert sich in den 60ern aus der Verschärfung der Rassenkonflikte ein neues Selbstbewusstsein und -verständnis der Schwarzen heraus. "Black Is Beautiful" ist eine Losung, die damals auf der Grundlage entsteht, den eigenen Minderwertigkeitsgefühlen den Kampf anzusagen. Die Integration in die Gesellschaft der Weißen und das Recht auf die eigene soziale und kulturelle Identität stehen auf der Liste der politischen Forderungen. Im Begriff Soul drückt sich seinerzeit neben der musikalischen Bedeutung auch die schwarze Kultur und Identität aus. 'Soul' ist politisch und gesellschaftlich mit vielen Bedeutungen aufgeladen und in diesem Sinn ein Code für ein schwarzes Selbstverständnis.
In diesen Zeiten sprechen sich die Schwarzen untereinander als Soul-Brother und Soul-Sister an. Die Ladenbesitzer in den Ghettos hängen als Zeichen der Solidarität, und um sich vor Plünderungen zu schützen, Schilder mit der Aufschrift 'Soul-Brother' in die Schaufenster. Auf Soulkonzerten zelebriert man damals das stilprägende und aus der afroamerikanischen Kirche und dem Blues bekannte 'Call-and-Response'. Zwischen Band und Publikum, zwischen Bläsern und Background oder zwischen Protagonist und Solist wird dem Ruf-Antwort-Prinzip gefolgt. In Kombination mit lautmalerischen Geräuschen wie Schreien und Stöhnen, und der Instrumentalbegleitung, die mit den eingängigen Akkordprogressionen des Gospel den Groove vorantreibt, entsteht während der Live-Shows der Eindruck einer ekstatischen Kirchengemeinde.
Zu Beginn der 60er veröffentlichen auf Atlantic-Records neue Soul-Musiker wie Solomon Burke ("Cry To Me", 1962), Joe Tex, Wilson Pickett ("I Found A Love", "With The Falcons") und später Aretha Franklin eine große Anzahl von Stücken. Typisch für diese Zeit sind dramatische 6/8-Balladen mit seelenvoller Gesangsinterpretation.
Die Veröffentlichungen des Stax Labels aus Memphis halten mit Otis Redding ("These Arms Of Mine", 1963), Rufus Thomas, Sam & Dave und Booker T. & The MG's dagegen. Was hier gespielt wird nennt sich Southern Soul, Memphis Sound oder Memphis Soul.
Eine dritte und für die Entwicklung des Soul wichtige Strömung kommt aus Detroit. Hier veröffentlicht das Label Motown, dessen Firmenname später als eigener Stil in die Geschichte eingeht. Motown ist geprägt von einem pompösen, mit vielen, vor allem klassischen Instrumenten, angereicherten Sound, was sich im Laufe der Jahre immer weiter steigert. Böse Zungen sprechen von einem "gefälligen musikalischen Unterhaltungsprodukt". Die Temptations, The Supremes und später auch Smokey Robinson und die Jackson Five dienen als Motown-Aushängeschilder. Die Produktionen sind deutlich auf einen weißen Markt ausgerichtet und dort sehr erfolgreich.
Von all dem unbehelligt macht James Brown sein eigenes Ding und auch Stevie Wonder lässt sich stilistisch nicht festnageln, auch wenn er aus der Motown-Schmiede stammt.
Der Soul leistet in seinen verschieden Ausprägungen den Spagat, für den weißen Massenmarkt geglättet zu sein, gleichzeitig aber ein schwarzes Selbstbewusstsein repräsentieren zu wollen. Für Soziologen stellt sich die Frage, warum die Weißen diese Musik akzeptieren und ihr so zu großen Erfolg verhelfen. Neben den faszinierend transportierten Emotionen ist wohl ausschlaggebend, dass die politischen Forderungen der Soul-Brother und -Sister für liberale Weiße durchaus akzeptabel sind. Es geht nicht um eine grundlegende Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, sondern um verfassungsgemäß zugesicherte Rechte. Eine gute Basis, um sich gemeinsam zu Bürgerrechtsdemonstrationen oder zum Handclapping bei einem Soul-Gig zu treffen.
"Mit der Ermordung Martin Luther Kings im April 1968 lässt die Soulbewegung als soziale, politische und musikalische Artikulation der Farbigen in den USA auffallend nach" (Wicke/Ziegenrücker, Handbuch der populären Musik, Schott, 1997).
Unter dem Label Phillysound genießt Soul in den 70ern erneut Chartsehren. Mit überladener süßer Klangästhetik, liefert die wenig synkopierte Rhythmik einen wichtigen Beitrag zur Discoentwicklung. Wicke/Ziegenrücker sprechen im Zusammenhang mit Phillysound zwar von "nach dem Fließbandverfahren gefertigter kommerzieller Tanzmusik, die mit den Werten der afroamerikanischen Kultur nur noch sehr bedingt zu tun hatte". Disco und Funk (das zweite Kind des Soul) sind dennoch zwei der relevanten und musikhistorisch bedeutsamen Stile der 70er.
Anfang der 80er steckt der Soul in einer Krise. Aber die Welt dreht sich nun mal weiter und neben Tina Turner, Prince und Michael Jackson, die die Nähe zum weißen Popmarkt suchen, ist vor allem der Hip Hop die treibende Kraft für die Entwicklung schwarzer Musik.
Im Lauf der 90er etablieren sich R'n'B, Nu Soul, Neo Soul, Urban Soul und Acoustic Soul in der musikalischen Landschaft. Die Bandbreite der Künstler und Künstlerinnen reicht von Erykah Badu, India Arie, Beyoncé, Anita Baker, Luther Vandross und Lauryn Hill bis hin zu Jill Scott, Alicia Keys, Joss Stone, Lisa Stansfield, Soul II Soul, Xavier Naidoo und Stefan Gwildis.
Black Music ist also fast allüberall. Soul gilt heutzutage umgangssprachlich häufig als Synonym für schwarze Popmusik, die laut Wikipedia "irgendwie 'soulful', also gefühlsbetont, daherkommt". Die alten Original-Stücke leben in Samples weiter. Die Techno- und Housegemeinde ist dankbar für jeden groovenden Lick und leistet einen wichtigen Beitrag um die guten alten Songs in Erinnerung zu behalten. Und hin und wieder kommt sogar ein waschechtes Soulalbum auf den Markt.