laut.de-Kritik
Ein Triumph der Stille.
Review von Rinko Heidrich20 Sekunden Stille, direkt zu Anfang eines Albums. Eine konsequente Ablehnung von zu viel Geräusch war typisch für Mark Hollis, der schon seine Band Talk Talk behutsam wieder aus dem Mainstream hinaus geleitet hatte. Er hätte nur die Formel von "Such A Shame", einem der größten New Wave-Hits der Achtziger, weiter führen müssen, aber dieser kleine Mann mit den hellwachen Augen wollte in erster Linie schauen, wie weit er Popmusik weiter denken konnte - so weit, bis sie nur noch in Fragmenten erkennbar schien. "Such A Shame" war sicherlich schon ein Hit, nicht so ganz deppert wie ähnliche Songs aus dieser Ära, aber doch ein Kind der Synth-Pop-Ära.
Doch genau das wollte Hollis mit seinem Album erreichen: Musik außerhalb der Zeit, ohne dass man sie sofort auf eine Ära festlegen konnte. Im Grunde genommen war damit schon klar, dass er den Weg von Talk Talk damit weiter geht. Dort wurde bei jedem Album seine Anti-Haltung gegenüber trendiger Musik auffälliger. Alles was in den Achtzigern und Neunzigern angesagt war, findet man nur noch in kleinen Dosen und später überhaupt nicht mehr im Werk des so konsequenten wie genialen Künstlers.
Die purste Essenz und radikalste Form war natürlich eben diese Stille am Anfang von "The Colour Of Spring". Ein Geschenk, das macht unsere Zeit noch einmal deutlich klar. Es ist alles so hyper, so überinszeniert und auf Maximum gedreht, dass wir uns eigentlich als größtes Geschenk einfach genau diesen absoluten Moment der Ruhe schenken sollten. Und doch klappt es nicht mal zehn Sekunden, bevor wir im konditionierten Suchtverhalten doch wieder das Dopamin in der lauten Ablenkung suchen.
Hollis zog sich bereits frühzeitig zurück und entschied sich für ein ruhiges Leben in einer Idylle, die er mit seiner Familie genießen wollte. Auch das war eine konsequente Abwehrhaltung gegenüber des Rock'n'Roll-Lifestyles und erst recht gegenüber der ständigen Verfügbarkeit von Influencern, die ihr Leben nonstop als großes Drama vermarkten (müssen).
Drama gab es auch auf diesem Soloalbum. "A Life (1895 - 1915)" erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der die Unmenschlichkeit des Ersten Weltkriegs miterlebt. Hollis Stimme ist nahezu nicht mehr hörbar und in diesem kammermusikalischen Minimalismus eher ein weiteres Instrument. Es wirkt mitunter so, als ob nur noch ein Bogen über dem Stimmband die geringstmögliche Lautstärke erzeugen soll, damit sie diese partikelkleine Zerbrechlichkeit nicht noch weiter beeinflusst. "Geografie der Musik", nannte Hollis einmal diesen Zustand, als würde er in einem Koordinaten-System arbeiten. So finden sich auch keine großen lyrischen Erzählungen, nur ein paar Wörter skizzieren das Leid. Das kleine, traurige Stück nimmt sogar Jazz, der gerne hitzig und laut sein möchte, seine prätentiöse Unruhe. Es ist ein minimalistisches Kunstwerk, genau wie das gesamte Album nahezu durchsichtig wirkt.
Vor allem erfüllt es diesen Anspruch der Zeitlosigkeit. "Westward Bound" oder "A New Jerusalem" sind Stücke, die undefinierbar, aber vor allem ohne Elektronik zwischen fast mittelalterlichem Folk und Jazz-Variationen des frühen 20. Jahrhundert angesiedelt sind. Alle Instrumente fahren so weit auf ihre Essenz runter, als würde nur eine falsche Bewegung ein kompliziertes Muster wieder zerstören.
"Kein Ton soll verschwendet werden" war das Credo von Mark Hollis. Das leise Klavierstück "Inside Looking Out" ist praktisch keine Melodie mehr, sondern eine stille Meditation, in der Hollis' Stimme mehr summt als singt und jeder Tastenanschlag sekundenlang den Raum ausfüllen darf. "Wenn du die Stille eines Raums brichst, solltest du einen Grund dafür haben", sagte er 1998 in einem Interview. "Je mehr Freiheit du bekommst, desto weniger möchtest du sie wieder abgeben", beschrieb er das Gefühl, nachdem seine Talk-Talk-Alben langsam doch zu einem Erfolg wurden und er diesen Weg 1988 auf "Spirit Of Eden" konsequent beendete.
Solche Sätze erinnern an Radiohead in ihrer Kid-A-Phase, als sie mit einem experimentellen Sound gegen das Image einer Rockband rebellierten. Ein Weg, den Hollis bereits vor ihnen beschritt, wenngleich auch auf eine ruhigere Art als "The National Anthem". Es gab zu der Platte leider keinen Live-Auftritt und er verlässt sein Soloalbum wieder, wie er am Anfang den Raum betrat: mit zwanzig Sekunden andächtiger Stille.
Es gibt auch nichts mehr sagen: Dieses Album bleibt ein Erlebnis, dessen emotionale Tiefe kein einfaches Nebenbei-Hören zulässt. Es ist der letzte Kontakt mit einem sensiblen Künstler, den die Musikindustrie wahrscheinlich nie verstanden hat und er sie noch viel weniger. Es ist trotzdem dank dieses Albums möglich, den 2019 verstorbenen Musiker noch einmal für diese 45 Minuten zurück zu holen. Du sitzt mit ihm an diesem Ort, beide sagen kein Wort und am Ende schaut man sich nur blinzelnd an und auf seinem Gesicht - kurz bevor er wieder verschwindet - ein verständnisvolles, leichtes Lächeln.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar
"Du sitzt mit ihm an diesem Ort, beide sagen kein Wort und am Ende schaut man sich nur blinzelnd an und auf seinem Gesicht - kurz bevor er wieder verschwindet - ein verständnisvolles, leichtes Lächeln."
Oh ja. Absolut nachvollziehbar.
Gruß
Skywise