laut.de-Kritik

Eine Operation am offenen Herzen des Synthie-Pop.

Review von

Wie schnell sich in dieser Redaktion zustimmendes Nicken und erleichternde Stoßseufzer in mürrische Blicke verwandeln können, erlebte ich vor einigen Jahren mit meiner Ankündigung, die Band Talk Talk endlich mit einem laut.de-Meilenstein zu ehren. "Der Schuh hat's drauf", entfuhr es sogar dem Chef wie komischerweise sonst nie in Gehaltsverhandlungen. Und auch er wurde auffallend still, als ich den Albumtitel meiner Wahl nachschob: "Spirit Of Eden".

Besagte Platte von 1988 ist jetzt nicht unbeliebt, im Gegenteil. Vielleicht hätte die Musik von Sigur Rós, Radiohead oder Steven Wilson ohne sie anders geklungen, vielleicht wäre die Entwicklung von Post-Rock erst zehn Jahre später in Gang gekommen, niemand weiß das. Mit karger und visionärer Klangästhetik beendete "Spirit Of Eden" die 80er Jahre jedenfalls schon vorzeitig mit einem ähnlichen Knall wie später Nirvanas "Nevermind" die 90er einleitete.

Nach dieser kleinen Vorrede ist es naheliegend, dass die lieben Kollegen von mir auch nicht "Laughing Stock" als Antwort erwarteten, sondern - natürlich - "The Colour Of Spring". Gibt es denn ein erhabeneres, zeitloseres Art-Pop/Rock-Album der 80er Jahre? Manche mögen nun "Hounds Of Love" von Kate Bush oder Peter Gabriels "So" ins Feld führen, denn alle drei Alben setzten auch produktionstechnische Maßstäbe, aber nur "The Colour Of Spring" schwebt seither losgelöst vom Erscheinungsjahr 1986 weit über dem Erdboden, märchenhaft-verträumt und schwer fassbar wie die Engel von Marc Chagall.

Schon während der Arbeit am Vorgängerwerk "It's My Life" bemerkt Talk Talk-Chef Mark Hollis 1984, dass Tim Friese-Greene mehr ist als ein neues Gesicht im Technik-Staff des Aufnahmestudios. Er testet ihn als Musiker auf der anschließenden Tour und befördert ihn schließlich zum Album-Produzenten. Ein erster entscheidender Baustein im sich nun herausbildenden Legenden-Mosaik der Gruppe. Wenn man wollte, konnte man den bald um sich greifenden Minimalismus im Sound schon damals, im Februar 1986, erahnen. Aber zum Raten war hier keiner gekommen, die Leute wollten von Talk Talk gefälligst Hits hören, mindestens ein neues "Such A Shame", genau wie ihr Majorlabel EMI, wo man die Band mit beeindruckendem Starrsinn weiter gegen Duran Duran am Markt zu platzieren sucht.

Hollis rebellierte auf seine Weise: In den wenigen Interviews überhörte er Fragen nach Simon Le Bon und sprach stattdessen über die Brillanz von Béla Bartóks Streichquartetten. Beinahe zufällig wurden zwei Songs der Platte dennoch zu Hits, die das Label zufrieden stellte, doch Hollis umgarnte sie mit überlangen Pop-Experimenten, die nach wie vor melodisch, aber mit sehr feingliedrigen Arrangements ausgestattet waren. "The Colour Of Spring" war seine Operation am offenen Herzen des Synthie-Pop - der Patient verstarb zwei Jahre später.

Los geht es gleich mit einem Standout-Track, und zwar nicht nur auf diese Platte, sondern auf die komplette Talk-Talk-Karriere bezogen: "Happiness Is Easy". Schon hier schert sich Mark Hollis wenig darum, wann genau der Song in die Gänge kommt. Ein lässiger Drumbeat vollführt einen zarten, scheinbar endlosen Groove, stoisch, als befände man sich nachmittags bei Lee Harris im Schlagzeugunterricht. Mit Einsetzen von Danny Thompsons Akustik-Bass verschwimmen Raum und Zeit und dann ist da halt noch diese Stimme, die sich über den göttlichen Hammondteppich von Steve Winwood erhebt. Genug Geld war mittlerweile vorhanden, um solche Studiolegenden zu verpflichten. Winwood dürfte Hollis als profunder Kenner von Jazz und Weltmusik aufgefallen sein, der praktischerweise schon Ende der 60er Jahre mit seiner Band Traffic genug vom Radio-Pop-Format hatte. Hollis' Gespür für eine freiere Songdynamik gelingt bereits hier atemberaubend.

Glücklichsein ist so einfach; eine Kalenderweisheit, die Hollis im Text natürlich anzweifelt, indem er die Ursachen von Gewalt untersucht. Die Sehnsucht nach Zufriedenheit erfüllt die Komposition derweil selbst. Der Kinderchor im Refrain hebt den Song noch einmal auf ein neues Level, was sich im Pop-Segment vermutlich aufgrund von Pink Floyds "Another Brick In The Wall" damals lange niemand mehr traute.

Unfair, hier Songs hervorzuheben, aber die ersten drei Songs von "The Colour Of Spring" sind pure Perfektion. Wie Robbie McIntosh von den Pretenders im Mittelteil von "I Don't Believe In You" seine Gitarre weinen lässt und einfach jeder Ton seines Instruments wie ein Regentropfen auf vertrocknete Erde fällt, ist schon mehr als ein Fingerzeig in eine von sonischen Experimenten geprägte Zukunft. Und schließlich "Life's What You Make It", ein hämmerndes Riff aus einem Klavier (!) und ein früher Feldversuch von Hollis, Songs nach Can'scher "Tago Mago"-Prägung zu schreiben.

Auch im Video zum größten Hit "Living In Another World" lässt sich Hollis demonstrativ am Klavier filmen, obwohl wieder Winwoods Orgel den Pop-Appeal vorantreibt und selbst Mark Felthams wildes Mundharmonikaspiel dem kommerziellen Erfolg der Nummer nicht Einhalt gebot. Der teilweise fast schon kindliche Spaß, den die Band im Video angesichts einer Windmaschine hat (man sieht Hollis lachen), zeugt von der gelösten Stimmung und symbolisiert rückblickend das Ende eines Karriereabschnitts.

Seine markant melancholische Klagestimme, die immer irgendwie belegt klingt, findet auf ruhigen Songs wie "April 5th" und erst recht auf der Andacht "Chameleon Day" zu einer neuen Qualität, die Hollis immer mehr überzeugen sollte. "Time it's time to live through the pain / Now that it's over, now that it's over", singt er im abschließenden "Time It's Time" wie eine Warnung an seine Plattenfirma, dass Talk Talk bald vor einer entscheidenden Weggabelung stehen werden.

Mit diesem Album begann für die Briten ein Weg, den sich seither kaum jemand zu gehen traute: Eine Flucht aus jeglichen musikwirtschaftlichen Zwängen in die völlige Improvisation. Dass Hollis nach einem natürlich erfolglosen Soloalbum 1998 bis zu seinem Tod als Künstler verstummte, ist das krönende Finale dieser Saga der Sydbarrettisierung. "The Colour Of Spring" wurde ein riesiger Erfolg in Europa und Amerika, Popmusik war ab diesem Zeitpunkt für Talk Talk durchgespielt.

Für die anschließende Welttournee reisten extra zwei Percussionisten mit, doch aufgrund der komplizierten Umsetzung spielten Talk Talk meist nur vier der neuen Songs live. Hier dürfte sich herausgebildet haben, was noch vor Veröffentlichung von "Spirit Of Eden" zu ersten Verstimmungen zwischen Hollis und Plattenfirma führte. Anstelle der heiß ersehnten Musik schickte der Songwriter 1988 die Info ins Londoner EMI-Headquarter, dass die neuen Arrangements viel zu komplex seien, um sie einem Publikum live zu präsentieren.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Happiness Is Easy
  2. 2. I Don't Believe In You
  3. 3. Life's What You Make It
  4. 4. April 5th
  5. 5. Living In Another World
  6. 6. Give It Up
  7. 7. Chameleon Day
  8. 8. Time It's Time

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5 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Der Text von Living in another world ist heute aktueller denn je

    Better parted
    I see people crying
    Truth gets harder
    There's no sense in lying
    Help me find a way from this maze
    I can't help myself

    When I see tenderness before you left (forget)
    That even breaking up was never meant (forget)
    But only angels look before they tread (forget)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)

    Better parted
    I see people hiding
    Speech gets harder
    There's no sense in writing
    Help me find a way from this maze
    I can't help myself

    When I see tenderness before you left (forget)
    That even breaking up was never meant (forget)
    But only angels look before they tread (forget)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)

    Help me find a way from this maze
    I'm living in another world to you
    And I can't help myself

    Did I see tenderness where you saw Hell? (forget)
    Did I see angels in the hand I held? (forget)
    God only knows what kind of tale you'd tell (forget)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)
    (Living in another world to you)

  • Vor einem Jahr

    Ein absolutes Meisterwerk, begleitet mich seit den 80ern bis heute und wird immer relevanter. Für mich noch etwas besser als die einzigartigen Spirit of Eden und Laughing Stock, die wohl konsequenter und mutiger waren aber nicht die Magie dieses Juwels aufweisen. Für mich auf Augenhöhe mit Dark Side of the moon oder Selling England by the pound und solchen persönlichen zeitlosen Meilensteinen.
    Die Platte tönt so wie sie heisst und aussieht. Aber eben ganz eigen, die perfekte Symbiose zwischen „organic jazzigem Pop a la traffic (winwood!) und süffigerem Pop. Zwischen akustischen und elektronischen Instrumenten. Zwischen Melancholie und Groove. Zwischen Bauch und Kopf.
    Es hat vor und nachher nie mehr ein ähnliches Album gegeben.

  • Vor einem Jahr

    Zurückblickend ist es nach wie vor faszinierend , dass diese als New Wave Band gestartete Truppe bereits in den 80ern solch ein zeitloses Juwel produziert hat. Ja, stimmt: es war bereits der Bruch mit den Label-Erwartungen spürbar - aber es blieb halt noch zugänglicher als die beiden folgenden Werke (oder gar Mark Hollis' Soloscheibe). Mit The Color of Spring begann meine Liebe zu Talk Talk, noch heute finde ich bei aufmerksamer Kopfhörernutzung Details, die ich bislang glaubte, nie gehört zu haben. Einfach immer noch ein Klassiker, den ich wenigstens einmal im Jahr rauskrame. Über die Jahre habe ich mehr und mehr zum Progressive Rock gefunden - diese Platte könnte neben den späteren Werken ein Auslöser gewesen sein. Ruhe in Frieden, Mark!

  • Vor 11 Monaten

    Der Bundesminister für akustische Gesundheit warnt: Nur für Hardcore-Synthie-Pop/Progressive-Fans geeignet!
    Sorry Leute, der Anspruch, "jeder" Musikfan müsse einen Meilenstein gehört haben, wird hier grob nicht erfüllt: Meine immerhin halbwegs aufgeschlossenen Ohren hören hier ein paar ganz nette, wenn auch extrem künstlich klingende Liedchen, unterbrochen von extremer Langeweile, schätze, man muss mit genau dieser Art Mucke aufgewachsen sein, um sie gut zu finden - vor oder auch nach den 80er-Jahren musikmäßig sozialisierte Menschen sind von diesem Werk fern zu halten!

    • Vor 11 Monaten

      es geht darum, dass andere Musiker diese Meilensteine gehört haben, und sich daraus neue Einflüsse ergeben haben. Was Du oder ich gehört und nicht gehört haben, ist doch wumpe.

    • Vor 11 Monaten

      Kompletter Schmu. Das Geilste an Gen Z ist ja, wie extrem divers ihre Geschmäcker sind. Wäre absolut nichts ungewöhnliches für sie, zwischendurch einen zarten, zerbrechlichen, wunderschönen Talk-Talk-Song in der Playlist zu haben. Ich bin ebenfalls "zu spät" geboren, und trotzdem jedes mal hin und weg, wenn die heiligen drei Platten von denen laufen.

  • Vor 11 Monaten

    Legendäres Albung und mit "Spirit Of Eden" mein Lieblingsalbung der Band, beide sind atemberaubend.