laut.de-Kritik
Ist sie Schneewittchen? Oder ihre böse Schwiegermutter?
Review von Giuliano BenassiSchaut man sich das Cover an, ist es schwer zu glauben, dass Natalie Merchant nächstes Jahr 40 wird und schon seit 20 Jahren im Business ist. Bieder gekleidet und doch sexy sitzt sie mit angewinkelten Beinen unter einem Apfelbaum und hat einen mit diesen Früchten gefüllten Korb neben sich. Ist sie Schneewittchen? Oder ihre böse Schwiegermutter? Eva, kurz bevor die Schlange sie zur Todessünde verführt? Oder handelt es sich um eine Anspielung auf Suzanne Vegas Cover zu "Nine Objects Of Desire"?
Fest steht: Wenn die ehemalige Stimme von 10.000 Maniacs ein neues Album veröffentlicht, ist Außerordentliches geboten. Wie wenige andere schafft sie es, anspruchsvolle Texte mit hochwertigen Arrangements zu verbinden, ohne dabei penetrant zu wirken. Auch für ZuhörerInnen, die sich weniger für gute Tipps an jüngere Generationen oder die Meinung der Songwriterin zur Weltlage interessieren, gilt: ihre warme, ruhige, emotionale, aber nie in Kitsch verfallende Musik verführt und reißt in ihren Bann.
Das Album beginnt eher untypisch mit dem orientalisch angehauchten und verhältnismäßig schrägen "This House Is On Fire." Merchants Stimme ist tief und hallt auf orgelgetragenem Reggae-Rhythmus. Jedoch gelangt man schon bei "Motherland" zu feinstem Merchant-Songwriting; vielleicht das beste Lied unter vielen guten, ist es eine gitarrengetragene, von einer Ziehharmonika unterstützte Ballade mit fragiler, melancholischer, dennoch überzeugter und hoffnungsvoller Stimme.
Das überraschendste Lied ist allerdings "Ballad Of Henry Darger." Ein weiterer Künstler in Merchants zahlreichem Persönlichkeitenrepertoire, war Darger ein eher unbekannten Maler aus Chicago, der einen 17.000 seitigen (unveröffentlichten) Roman verfasst hat. Nur ein Blick ins Booklet verrät, dass ein gesamtes Orchester ihre hohe, fast flüsternde Stimme begleitet. Dabei klingt der Song zärtlich wie ein Gute-Nacht-Lied.
"Motherland" ist das erneute Zeugnis einer einfühlsamen Künstlerin, die nicht nur das Singen und Songschreiben beherrscht, sondern auch die Fähigkeit hat, erstklassige Musiker um sich zu scharen und Atmöspharen zu produzieren, die mal tröstend und einlullend, manchmal melancholisch sind, dennoch nie ins Abgelutschte oder Langweilige abrutschen. Dadurch hat sie viel mit Suzanne Vega gemeinsam. Eine böse Schwiegermutter zu sein, kann man ihr kaum unterstellen, eine naive Eva ist sie bestimmt auch nicht. Es bleibt ein emanzipiertes Schneewittchen übrig: der Gefahr der Äpfel bewusst, erzählt sie von den Ungereimtheiten des Lebens und warnt Unwissende vor den Folgen eines unüberlegten Zugriffs.
1 Kommentar
Für mich ist dieses Album der Höhepunkt Ihrer Karriere. Alleine die ersten 6 Songs - anbetungswürdig. Dazu passt dann auch die perfekte Produktion von T Bone Burnett.