The Cure, Noel Gallagher, Janelle Monáe, Cypress Hill, Bring Me The Horizon, Cardi B, Travis Scott, Bob Dylan, Wu-Tang Clan u.v.a. standen beim Roskilde 2019 auf der Bühne.
Roskilde/Kopenhagen (mab) - "Mann, ist mir kalt! Sollte es nicht Sommer sein?", motzt Cardi B von der Orange Stage herunter. Während die meisten ihrer Fans inzwischen mehrere Lagen Pullis, Westen und Jacken tragen, stolziert die Rapperin in einem knappen Bodysuit über die Bühne. Das bisschen Wetter twerkt die 'Boss bitch' einfach weg.
Noch vor zwei Stunden stand an selber Stelle Bob Dylan und verkörperte den Gegenentwurf zu Cardi. Nur den Kopf des Meisters sieht man hinter dem Klavier. Wie gewohnt richtet er kein Wort ans Publikum, und der Performance-Höhepunkt ist erreicht, als er zum Abschied tatsächlich kurz vor seinen Flügel tritt.
Es gibt nicht viele Großveranstaltungen, auf der eine solche Headliner-Kombination denkbar wäre, das Roskilde zeichnet sich 2019 wieder durch enorme Vielfalt aus. "Natürlich ist das Line-Up immer auch ein terminliches Puzzle. Aber solche Kombinationen sind schon Absicht", lacht Pressesprecher Martin Hjorth Frederiksen. Auch wenn das unglückliche Ende des Vorjahres noch in den Knochen steckt (Unfall beim Gorillaz-Konzert): Das Orange Feeling ist trotzt Wind und Wetter intakt und übersteht auch einige größere Neuerungen.
Orange Evolution
"Wir wollen nicht stagnieren", erklärt Frederiksen den Schritt, das Infield deutlich umzubauen. Die Apollo Stage, Freiluft-Tempel für Elektro- und Hip Hop-Aficionados, rutscht von seinem bislang ausgelagerten Spot außerhalb des Hauptareals direkt neben die Orange Stage. "Wir hoffen, dass so mehr Leute, die sich die großen Shows auf der Orange Stage ansehen, auch mal bei den dortigen Konzerten vorbeischauen." Dafür wechselt das zuvor dort platzierte Avalon ins einstige Backstage-Gebiet auf die gegenüberliegende Seite der Orange Stage. Fußlahme Fans und faule Journalisten freut das ganz besonders.
Im neuen Avalon eröffnet Maggie Rogers das Festival auch fulminant. Mit unglaublichem Rhythmusgefühl und ansteckendem Dauerlachen im Gesicht wogt die Sängerin über die Bühne, schleudert Hook um Hook in die Menge. Das Publikum empfängt sie euphorisch und kocht mit jedem Song noch ein bisschen weiter hoch. Eine charismatischere Performance dürfte man in den nächsten Tagen kaum finden.
Wer neben tanzenden Popfans auch tanzende (Ex-)Black Metaller sehen möchte, muss sich beeilen und eine halbe Stunde später im Pavilion auf der anderen Infield-Seite aufschlagen. Ulver präsentieren den Depeche Mode-Groove ihres nach wie vor aktuellen Albums "The Assassination Of Julius Caesar". Der einzige, der hier noch an metallische Anfangszeiten erinnert, ist Bartmonster Kristoffer Rygg. Sein Drummer trägt eine Cap mit Aufschrift "RAP", sein Percussionist schwoft mit bunt spiegelnder Sonnenbrille und Schellenkranz hinter Congas. An Intensität büßt der Auftritt aber keineswegs ein. Nur schade, dass die Lasershow tagsüber im halboffenen Zelt kaum wirkt.
Cardi B übertrumpft Bob Dylan
Nebenan zerlegt JPEGMAFIA extrem körperbetont das Apollo und die frenetisch feiernden Fans davor gleich mit. Er kriecht über die Bühne, stiert mit wahnsinnigem Blick ins Publikum - und bedankt sich im nächsten Augenblick artig und grundsympathisch für ein zugeworfenes Bandana. Dazwischen gibts mehrere Crowdsurf-Einlagen, einen Freestyle, der mit dem Wunsch an ein Ableben Donald Trumps endet und - angestachelt von der Menge - tausendfach verstärkt den Schlachtruf: "Fuck Morrissey!".
Für eine Hauptbühne fast schon gespenstisch ruhig wird es kurz darauf bei Bob Dylan. Der Mann steht zwar auf den Festivalplakaten ganz oben, zieht aber erstaunlich wenig Leute. Die Jubelrufe fallen deutlich verhaltener aus als bei der schon um 16 Uhr an selber Stelle aufgetretenen LGBT-Rapperin Silvana Imam.
Daran ist Dylan freilich ein bisschen selbst schuld, denn wer nicht mit den Fans kommuniziert, bekommt nun mal keine überschwänglichen Reaktionen. Musikalisch und künstlerisch ist er mit den eigenwilligen Liveinterpretationen seiner Songs trotzdem über jeden Zweifel erhaben. Und auch wenn er keinen Hehl daraus macht: Der Mann hat Spaß. Immer wieder entgleist ihm beim Spielen ein Lächeln, bei der spöttischen Verbeugung am Ende wirkt er – für seine Verhältnisse – sogar irgendwie gelöst.
Was Dylan wohl davon hält, dass nach ihm DJ-Agitator, Tänzerinnen und Cardi B seinen Platz einnehmen? Dafür merkt man recht schnell, dass es bei Cardi trotz ungemütlicheren Wetters (bei Dylan herrschte strahlender Sonnenschein, nun weht ein eisiger Wind) deutlich enger und lauter zugeht. Cardi rappt aggressiv, on point und zeigt, warum sie im Money-Biz derzeit ganz oben mitspielt.
Nur: Warum so kurz? Nach einer Dreiviertelstunde verabschiedet sie sich. Selbst Hits wie "I Like It" kürzt sie ab. Vielleicht war es ihr am Ende doch zu kalt. Egal, Zeit für den Schlafsack. Morgen spielen Travis Scott und MØ.
Empire Of The Rain ...
Für Donnerstag steht eigentlich im Programm: "Empire Of The Sun". Doch nicht mal die australischen Paradiesvögel vertreiben die Regenwolken. Während ihres gesamten Sets weint der Himmel. Luke Steele ist trotzdem bestens aufgelegt und ersetzt die Sonne am Himmel mit seiner wasserstoffblonden Dragonball-Frisur. Kostümparade, Electro-Pop mit genau dem richtigen Faktor Cheesyness, Tänzer und ein gegen den Regen tanzendes Publikum – ein Vergnügen.
Der Regen hielt viele auch nicht davon ab, schon mittags Barselona zu gucken. Vor zwei Jahren spielten die Dänen noch im Newcomer-Programm des Festivals, jetzt füllen sie das Avalon problemlos. Trotz Regen stehen die Menschen noch bis weit außerhalb der schützenden Zeltplanen, um einen Blick auf die inzwischen von Lo-Fi-Dreampop zu atmosphärischem Artrock in neunköpfiger Besetzung gereifte Band zu erhaschen.
Atmosphäre im Pavilion
Leer bleibt es dagegen im Pavilion – obwohl auch der überdacht und durchweg gute Musik bietet. Penelope Isles springen dort kurzfristig für Lucy Dacus ein, müssen einen Pedaldefekt verkraften, aber überzeugen mit dreistimmigem Gesang, tollen Melodien und atemberaubenden Noise/Shoegaze-Klangflächen. Nur eine Woche später wird ihr Debütalbum "Until The Tide Creeps In" erscheinen. Das nennt man Timing.
Noch stärker ist im Anschluss Julien Baker. Nur mit Stimme, Gitarre und zuweilen einer Geigerin hält sie für eine knappe Stunde die Zeit an. "Ein einzigartiges Talent", lobt später Jordan Dreyer, Frontmann von La Dispute. "Darüber wollte ich unbedingt mit euch sprechen". Er selbst ist ebenfalls in Hochform, wetzt über die Bühne und hat das Gefühl, "heute noch runterzufallen. Fangt ihr mich bitte? Ich habe keine Krankenversicherung".
Eine Flugeinlage gibts letztlich zwar doch keine, dafür einen Tipp fürs Nachtleben: "Solltet ihr um 2 Uhr schon was vorhaben, sagt es ab. Kommt wieder hierher und guckt euch The Body und Full Of Hell an. Das ist eine Once-in-a-lifetime-Chance.". Beide spielen ein gemeinsames Set und entfesseln einen intensiv verstörenden Mahlstrom.
Willkommen in Astroworld
Lange wach bleiben, empfiehlt sich heute ohnehin. Um 1 Uhr öffnet Travis Scott die Tore zu seiner "Astroworld". Zu Donnergrollen, Nebel- und Feuerfontänen fegt der Rapper während der ersten Songs über die Bühne, als müsste er gleich zwei Festivals auf einmal headlinen. Von seinen Fans verlangt er kaum weniger. Nach drei Minuten fordert er die ersten Moshpits, nach fünf sollen alle in die Knie gehen.
Die Meute folgt ihm aufs Wort und rastet eine gute Stunde lang komplett aus. So geht Headliner. Die vielen Snippets im Mittelteil des Auftritts nehmen zwar vorübergehend etwas Stimmung raus. Die alte Garde des Wu-Tang Clan (kurzfristig eingesprungen für Chance The Rapper) wird sich am Folgetag mächtig strecken müssen, um mit der Jugend mitzuhalten.
Me We, statt Us vs. Them
Das diesjährige Festivalmotto lautet: "Solidarity". "Wir möchten uns mit der Jugend und ihren Bewegungen solidarisieren", erklärt der Pressesprecher. Verständlich, lag das Durchschnittsalter der insgesamt 130.000 Besucher im vergangenen Jahr doch bei 24 Jahren. Greta Thunberg sei Dank reichen heuer viele Imbissstände eine Klimabilanz zu ihren Speisen. Freitagmittag organisiert das Festival ein Gruppenbild vor der Orange Stage: Hunderte kommen, um mit ihren Körpern ein "Solidarity Now" auf dem Gras nachzustellen.
Im Central Park (sozusagen die 'Stadtmitte' des Festivals) formen riesige Baumstämme die Buchstaben ME WE. Die Schweizer Künstlerin Claudia Comte will damit sowohl Solidarität zur Natur als auch zur Gesellschaft ausdrücken. Frederiksen: "Das Werk ist simpel, aber der Gedanke stark: 'Me We', statt 'Us vs. Them'."
Das Motto der vorangegangen drei Jahre – "Equality" – ist freilich keineswegs vergessen. Und das trägt längst Früchte: Mittlerweile besuchen das Roskilde Festival sogar mehr Frauen (52 Prozent) als Männer. "Wir möchten ein Safe Space sein." Dazu spendet das Non-Profit-Festival einen Teil seines jährlichen Gewinnüberschusses an entsprechende Aktionsbündnisse, 2018 z.B. an die von Künstlerinnen betriebene Osloer Kreativitätsplattform KOSO.
Auch auf dem Festival selbst sprechen Künstlerinnen in Talkrunden über die Rolle von Frauen im Musikbusiness, zum Beispiel im Rahmen des Panels "Women Are Awesome" mit Lydmor als prominenteste Speakerin.
Die Neon-Königin
Lydmor hinterlässt auch auf der Bühne Eindruck. 2018 spielte sie noch im winzigen Klub Rå, jetzt füllt sie zur besten Stagetime das Avalon. "Konzerte waren immer wie mein persönliches Tagebuch – sehr intim. Jetzt seid ihr aber so viele", seufzt sie zu Beginn. "Also muss ich mich vervielfältigen." Folgerichtig hat die Dänin ihre Workstation (Laptop, Keyboards, drei Mikrofone) inmitten eines beweglichen Spiegelwalds aufgebaut. Dort thront sie, mit Neonfarbe bemalt, wie eine Sci-Fi-Königin und feuert die bislang beeindruckendste Lightshow des Festivals ab.
Ein weiteres Highlight am Freitag: Bring Me The Horizon. Stimmlich wackelt Oli Sykes live zwar nach wie vor, hüllt die vor der Bühne ausrastenden Teenies aber mit seinen Entertainer-Qualitäten in einen moshenden Knäuel aus Liebe. Zu "Antivist" holt er einen nur mit Sporthose bekleideten Fan neben sich ans Mikro. Zur Überraschung aller Anwesenden nailt der sowohl die Scream- als auch die Clean-Vocal-Parts des Songs. Zur Belohnung lässt ihn Sykes sogar den Moshpit eröffnen.
In der Abenddämmerung schallt es dann ziemlich laut im Wechsel von der linken zur rechten Seite der Orange Stage: "Wu!" – "Tang!" Der Wu-Tang Clan lässt sich lange bitten, schickt seinen DJ vor. Der verkabelt erst mal in aller Seelenruhe seinen Laptop und checkt die Monitorboxen. Für den langen Tease fällt die eigentliche Show dann relativ unspektakulär aus. Die alternden Oldschool-Rapper werfen sich zwar souverän die Bälle zu, aber das Prädikat 'nette Abendunterhaltung' wollten sie eh nie haben. Nun ja, immerhin bekommt RZA zum 50. Geburtstag einen schönen Smartphone-Kuchen mit tausenden Lämpchen.
Knüppelnacht
Die Nacht gehört den Brutalos. Heave Blood & Die liefern eine intensive Noise Post Metal-Stunde im vernebelten Gloria. Im Publikum FaceTimet jemand schadenfroh mit seinem vor der Orange Stage auf Robyn wartenden Kumpel. Death Grips ficken die lädierten Hirnwindungen um 2 Uhr Nachts so richtig durch, und wer danach noch laufen kann, pilgert zu Baest.
Die Death Metaller spielen bis zum Morgengrauen vor übervollen Reihen, provozieren mit ihrem Geballer Crowdsurfer (trotz ausdrücklichen Verbots) und sorgen buchstäblich für offene Münder bei teils wie angewurzelt stehenbleibenden Passanten. Well, well, well. Ein Tag geht noch!
Transzendentale Erlebnisse am letzten Tag
Aufs Zeltdach trommelnder Regen weckt am Samstagmorgen. Da kommen Khruangbin gerade recht. Zwar sagt das Trio, es käme "from Houston, Texas", doch Bassistin Laura Lee und Gitarrist Mark Speer schweben über die Bühne wie zwei Außerirdische, die gerade ihrem UFO entstiegen sind. Selbst ein Schluck aus dem Plastikbecher wirkt bei den beiden wie ein transzendentales Ritual.
Mit Mystik haben Whores. überhaupt nichts am Hut. Den eine Viertelstunde vor Stagetime aufklärenden Himmel kommentiert Frontmann Christian Lembach so: "The rain ist gone, here comes the sun, we're all gonna get skin cancer!". Musikalisch gibts kompromisslos auf die Fresse, klar. Krassen Kontrast dazu bildet eine Stunde später Zeitkratzer. Das Berliner Experimental-Ensemble interpretiert frühe Werke Kraftwerks mit Bläsern, Streichern, Pauke und einem erfinderischen Klavierspieler. Anspruchsvoll, aber sehr spannend.
Von der Orange Stage gegen den Orange Man
Um 19 Uhr clashen drei Schwergewichte: Noel Gallagher's High Flying Birds bespielen die Arena, Phil Anselmo und seine Illegals zocken im Avalon ein Pantera-Set und Janelle Monáe proklamiert auf der Orange Stage die Revolution der Dirty Computers. Wir entscheiden uns für letztere und sind schon nach den ersten drei Songs – "Crazy Classic Life", "Screwed", "Django Jane" – extrem froh.
Perfekt choreographiert und mit tighter Liveband im Rücken führen sie und ihre Tänzerinnen durch ein anderthalbstündiges Musiktheater. Technische Probleme im Mittelteil dimmen die Stimmung kurz. Spätestens als sie drei Fans, "who got the juice" zum Tanzen auf die Bühne holt – einer davon heißt Prince – hat die sie Roskilde-Crowd aber wieder am Haken. Stets erinnert die Sängerin an die politische Dimension ihrer Stücke, wirbt für Toleranz und greift jemanden an, dessen Teint ungefähr dieselbe Farbe hat wie die Bühne auf der sie gerade steht: "Ich habe die Republikaner im Weißen Haus satt. Wir müssen Donald Trump seines Amts entheben!".
Wer im selben musikalischen Vibe weiterfeiern möchte, rennt nach Janelle schnurstracks zu Lizzo. Die hat ebenfalls Tänzerinnern am Start. Teilweise cruisen diese auch auf Rollschuhen um die stimmgewaltige Diva-in-the-making herum. Wer nach Janelles Trump-Bashing lieber die aufgesammelten Aggressionen ablassen möchte, wechselt dagegen zu Converge. Fronter Jake Bannon macht auf der Bühne mehr Meilen als Travis Scott, verheddert sich im Gitarrenkabel, knallt auf die Schnauze, schreit am Boden weiter. Im selben Song stürzt auch Basser Nate Newton – die beiden high-fiven, lachen - und wüten weiter.
Zum Abschluss: die Bong from Hell
Langsam wird es Zeit nun für die Band, auf die ein Großteil der Crowd am gespanntesten wartet – auch Pressesprecher Frederiksen: "The Cure sind eine meiner Lieblingsbands. Und da sie als letzter Act auf der Orange Stage auftreten, können sie quasi ewig spielen". Machen sie auch. 28 Songs trällert Robert Smith in die Nacht. Selbst ganz hinten bei der Fressmeile bilden sich noch Tanzgrüppchen.
Trotz des übermächtigen Gegners auf der Hauptbühne versammelt sich eine ansehnliche Schar Metaller zeitgleich in der Arena. Dort liefern Behemoth nicht minder beeindruckend ab, nur tanzt keiner. Nergal und Co. verbannen vorsorglich die Fotografen aus ihrem gewohnten Arbeitsplatz vor der Bühne – aus Sicherheitsgründen. Schon während des ersten Songs schießen die Polen meterhohe Flammensäulen. Ausgerechnet aus dieser Hölle erheben sich eine Stunde später Cypress Hill. Nun ja, ohne Feuer keine Bong ... Oh Roskilde, wie schön ist deine Vielfalt!
50 Jahre Orange Feeling
2020 wird das Festival übrigens zum 50. Mal veranstaltet. Vom 27. Juni bis 4. Juli verwandelt sich das Gelände neben der örtlichen Handelsskole dann wieder zur viertgrößten Stadt Dänemarks. Der Vorverkauft startet in Kürze.
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