laut.de-Kritik
Vielversprechender Titel, aber kein Gemetzel.
Review von Giuliano BenassiWer den Film "20,000 Days On Earth" kennt, weiß, wie akribisch Nick Cave arbeitet. Kreativität ist für ihn keine mystische Erfahrung, sondern das Ergebnis täglichen Schaffens. Deshalb setzt er sich morgens an seinen Schreibtisch, um Hefte und Schreibmaschinenblätter mit Notizen, Anmerkungen, Texten und Zeichnungen zu füllen.
Das erste Corona-Jahr 2020 führte dazu, dass er die geplante Welt-Tour mit seinen Bad Seeds abblasen musste - noch mehr Zeit also, um zu brüten beziehungsweise, "zu lesen, regelrecht zwanghaft zu schreiben und einfach nur auf meinem Balkon zu sitzen und über die Dinge nachzudenken". Abwechslung war willkommen. So buchte er einen Konzertsaal und interpretierte sein Repertoire am Flügel. Das Ergebnis erschien erst als Stream mit Eintrittskarte, dann auch als Kinofilm und CD/LP. In einer Woche schrieb er dazu Litaneien für den belgischen Komponisten Nicholas Lens, der sie zuhause vertonte. Als die Zustände es dann zuließen, begab sich Cave in ein Londoner Studio mit seinem Freund Warren Ellis, der seit den 1990er Jahren Mitglied der Bad Seeds ist und seit langem Caves wichtigster Ansprechpartner in musikalischen Angelegenheiten.
Cave brachte die Texte mit, Ellis zauberte Loops aus seinem Computer. Diese ergänzten sie mit Klavier (Cave) und weiteren Instrumenten wie Gitarre, Geige, Viola, Flöte, Synthetizer oder elektronisches Schlagzeug (Ellis). Eine Arbeitsweise, mit der sie im Laufe der Jahre einige Soundtracks erzeugt haben. Dieses Mal jedoch gab es keinen konkreten Anlass, außer, die coronabedingten Umstände irgendwie festzuhalten.
Das ist der kaum sichtbare rote Faden, der die Stücke dieses Albums zusammenhält. Kein organisches Werk, wie man es von den Bad Seeds gewohnt ist, denn dazu fehlt der Beitrag der anderen Mitglieder und die bei ihnen so wichtige Studioatmosphäre, auch wenn Schlagzeuger Thomas Wydler für ein Stück ("Old Times") vorbeischaute. Auch hatten sie so die Möglichkeit, mit Sounds zu experimentieren, die sie wohl nie auf ein Bad Seeds-Album gepackt hätten. Die Tüftelei rundeten sie mit einem Streichquartett ("Shattered Ground") und, auf den meisten Stücken, einem fünfköpfigen Chor ab.
Der Opener klingt zunächst eher traditionell, mit Cave am Klavier und einem kryptischen Text, der von einem Jungen und einem verführerischen, gefährlichem Fluss handelt. Plötzlich schwenkt das Stück in eine alpträumerische Disco-Atmosphäre um. Wird die "Hand Of God" tatsächlich zur Hilfe kommen? "Old Time" dagegen überzeugt mit einem wahnsinnig tiefen Basslauf und Cave, der in manischem Sprechgesang an sein bestes Stück in den 2010er Jahren erinnert, "Higgs Boson Blues" (aus "Push The Sky Away", 2013).
"Die Arbeit an 'Carnage' war eine komprimierte Phase intensivster Kreativität", erläutert Ellis, "denn es dauerte gerade mal zweieinhalb Tage, bis diese acht Songs in irgendeiner Form standen. Dann erst sagten wir uns: 'Ach komm, lass uns doch ein Album machen!' Das alles war also nicht sonderlich geplant". Mit etwas mehr Abstand hätte es das titelgebende dritte Stück vermutlich gar nicht in die engere Auswahl geschafft, das schwächste auf der Platte, mit 1980er Synthiepop-Stimmung auf Downers.
Dafür beginnt "White Elephant" vielversprechend, wieder mit einem Bass, der ältere Lautsprecher an ihre Grenzen bringt. "I'm a Botticelli Venus with a penis" trägt Cave vor, was sich bei ihm reimt. "I'll shot you in the fucking face" heißt es wenige Zeilen später, die Stimmung immer bedrohlicher. Wie in Stück eins kommt plötzlich ein harscher Bruch, diesmal durch einen gospelartigen Chor, der etwas von einem Königreich im Himmel faselt.
Na ja. "Albuquerque" taugt als Schnulze für einen Disney-Film, falls es jemals einen über die Corona-Jahre gibt. Die Zeilen "We won't get to anywhere else this year" würde jedenfalls gut passen. "Lavender Fields" könnte glatt als kirchliche Orgelhymne durchgehen, "Shattered Ground", das laut Ellis gleich im ersten Take fertig gewesen sei, klingt gar nach Bruce Springsteen ohne E Street Band.
Zum Schluss wird es nochmal interessant, denn "Balcony Man" ist trotz wabernder Keyboardklänge eine klassische Cave-Klavierballade, die von einem Mann handelt, der sich auf seinem Balkon wie Fred Astaire fühlt, während der in der Morgensonne einen Tanz aufführt. "This morning is amazing and so are you .. And what doesn’t kill you just makes you crazier", so die letzten Zeilen, optimistisch begleitet von Streichern und Klaviernoten.
Letztlich verspricht der Titel mehr, als er hält, denn "Carnage" ist keine Rückkehr zum Soundgemetzel der 1980er Jahre. Cave selbst sieht das Album als "eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe". Brutal ist es sicherlich nicht, zumindest verglichen mit anderen Platten, die er aufgenommen hat. Banal aber auch nicht, denn das ist er nie, zum Glück.
Ein gutes Herz hat er auch. Um seinen treuen Roadies unter die Arme zu greifen, hat Cave aufgeräumt und Stapeln an Memorabilia und die Gitarre, die er bei Grinderman gespielt hat, zur Verfügung gestellt. Ellis und die anderen Bad Seeds haben es ihm gleichgetan und so sind über 100 Gegenstände und Gutscheine zusammen gekommen, die am 12. März 2021 über die Seite Crowdfunder verlost werden. Ein Los kostet 5 Pfund, zusammen gekommen sind bis zur Veröffentlichung des Albums am 26. Februar bereits knapp 200.000 EUR.
Nicht dabei sind allerdings die Vinyl- und CD-Ausgaben dieses Albums. Die erscheinen erst am 28. Mai. Bis dahin muss man sich also mit Stream oder Download begnügen.
3 Kommentare mit 3 Antworten
Wie jetzt? Ne neue Nick Cave ist erschienen und es gibt kein Luststöhnen der laut'schen Fanschar?
Gib mir doch noch ein bisschen Zeit, lieber Schwingi. Ich bin noch nicht so weit.
Was für dich David Bowie ist, das ist für mich Nick Cave, Schwingi.
Na schön, ich erwarte aber zeitnah angemessenes Geperser von euch.
Also es ist tatsächlich nicht schon wieder ein Meisterwerk. Sooo schlecht wie hier beschrieben ist es dann aber auch wieder nicht. Eine gute 4 wäre sicher angemessen.
Der Rezensent ist ja nur neidisch, weil seine eigene Musikerkarriere gescheitert ist, während Nick Cave ganze leere Konzertsäle nur mit einem Klavier füllt. Das merkt man auch daran, dass die Rezession jedwede Objektivität vermissen lässt und stattdessen rein subjektiv ist. Armes Deutschland.
Ne, im Ernst, eine Abkehr vom musikalisch etwas reduziert-atmosphärischen Weg, den Cave seit Push The Sky Away eingeschlagen hat war hier trotz des Titels gerade in Pandemiezeiten sicher nicht zu erwarten. Allgemein sind die Ghosteen-Vibes noch immer recht stark auf der Platte, vielleicht mit ein paar Tupfern mehr Wahnsinn und Bedrohlichkeit, die die Platte dann wahrscheinlich auch etwas bekömmlicher macht für alle, die mit der letzten nichts anfangen konnten.
Finde rawmelodymen hat das schon ganz gut eingeordnet. 3/5 sind aufgrund der Kürze und der Tatsache, dass dann auch nicht jeder Track der absolute Banger ist, mMn noch vertretbar, würde hier aber definitiv auch die 4/5 zücken.