laut.de-Kritik

Wie ist die Katze eigentlich so fett geworden?

Review von

Wir schreiben das Jahr 1994. Der so oft totgesagte Punk erfährt vor allem in den Vereinigten Staaten eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes und schickt junge Bands wie The Offspring oder Green Day an die Spitze der Charts. Irgendwo im überraschend gefälligen Getümmel sitzt eine chaotische Truppe aus dem sonnigen Kalifornien stets zwischen den Stühlen, zu zahm für den Underground, deutlich zu derb für den Mainstream. Die frühen Jahre von NOFX lassen sich unmöglich in der Kürze zusammenfassen, aber von Gang-Aktivitäten, Drogeneskapaden, Besetzungswechseln, den wildesten Stories auf Tour bis hin zu einem Deal mit Brett Gurewitz‘ legendärem Epitaph Label – Stillstand oder Langeweile sucht man hier vergebens.

Nach der endgültigen Besetzung des Leadgitarren-Postens mit Spaßvogel El Hefe (Aaron Abeyta) im Jahr 1991 breiten sich große Melodien und zusätzliche Einflüsse wie Ska oder gar Jazz in den Machwerken des Vierers aus. Verglichen mit dem zum Teil arg atonalen, von Sänger Michael "Fat Mike" Burketts Organ spöttisch veredeltem Hardcorepunk der Anfangstage erscheinen die nachfolgenden Kompositionen immer feiner, durchdachter, melancholischer und zum Teil inhaltlich ernster. Gleichzeitig wird der ordentlich alberne, meist recht derbe Humor der Burschen immer mehr zu deren Trademark. Nach den Aufnahmen zum gemeinhin sehr positiv aufgenommen Album "White Trash, Two Heebs And A Bean" überwindet Drummer Eric Sandin endlich seine Heroinsucht und entwickelt sich regelrecht zum Tier an den Trommeln.

Der buchstäbliche Zenit all dieser Entwicklungen heißt "Punk In Drublic" und erblickt vor recht genau 30 Jahren das Licht der Welt. In einer guten halben Stunde galoppieren ausschließlich Evergreens, dicht aneinandergereiht und bis heute häufig zitiert, in Herzen und Hirne der Punks inmitten und jenseits des in poliertem Glanze blühenden Neo-Punk-Revivals. Völlig unvermittelt springt die ewige Hymne "Linoleum" mit dem Gesäß zuerst aus den Lautsprechern und bringt vielstimmige Gitarren- und Gesangsmelodien mit waghalsiger Geschwindigkeit an den Mann oder die Frau. Direkt im Kopf verewigt, jedes Wort an der bestmöglichen Stelle, und auch Fat Mike scheint letztlich seine stimmliche Mitte gefunden zu haben.

Das folgende, für die Bezeichnung Mid-Tempo immer noch zu flotte "Leave It Alone" wird als Single ausgekoppelt (mit der unfassbar großartigen B-Seite "Drugs Are Good") und bekommt ein Video. Gerade als Ungeheuer MTV in Begriff ist, die Band schlucken zu wollen, entscheiden sich NOFX gegen die große Maschinerie und behalten das Bildmaterial lieber für sich. Zum hochmelodiösen Riff und den fetten Stakkatoparts gesellen sich zwar die etwas kryptischen Textzeilen "Leave it alone, follow the grain, we coulnd’t stop the irrestible force", die auch bedeuten könnten, vor der Vereinnahmung zu kapitulieren, aber offenbar hat man die Kurve rechtzeitig gekriegt.

Die anschließend thematisch passende Konsumkritik "Dig" rast geradezu durch unser Hörfeld, und die irrsinnigen Drums und die geilen Dissonanzen an der Gitarrenfront sorgen für groben Abrieb. Kurz bevor es zu mies wird, gibt es reggaeartige Wohlfühlnoten und El Hefes Trompete als Intermezzo. Bis heute gelingt kaum einer Band dieses Spektrums eine solche Intervention so spielend. Nach dem heiteren, leicht unsinnigen, aber wie immer super melodiösen "The Cause" wartet bereits die nächste, unsterbliche Hymne auf ihren Einsatz. "Don't Call Me White" hat verdammt noch mal alles, was ein echter Punksong zu bieten haben sollte. Melodie und Härte stehen im perfekten Verhältnis, aber trotz aller Harmonien, den catchigen Hooks und den großartigen Chören bleibt das Stück unbequem. Spätestens mit dem hochdramatischen Mittelteil, in dem man höchst authentisch seinen Hass auf weiße Stereotypen in die Welt schreit ("Represents everything I hate, the soap shoved in the mouth to cleanse the mind") bricht garantiert jeder Damm.

Immer wenn die Gefahr droht, dass es zu ernst wird, bekommt der gute El Hefe seine drei bis fünf Minuten. Eine extrem schmalzige Calypso-Jazz-Whatever-Nummer mit nasalem, völlig überzeichnetem Gesang, der textlich eine Gonorrhoe-Infektion behandelt? Jawohl. Obwohl eigentlich völlig absurd, es passt perfekt ins Albumkonzept. Chapeau. "Perfect Government", ein Cover des hierzulande kaum bekannten Singer/Songrwiters Mark Curry, täuscht nur ganz kurz Beschwingtheit vor, mäht nach einigen Sekunden aber alles nieder. Zynisch, anprangernd, atemberaubend schnell und wie immer voller Wohlklänge. "How did the cat get so fat? Why does the family die? Do you care why?". Zeilen, die genau wie klebrige Melodie für immer haften bleiben. Die jüdische Glaubenszugehörigkeit von Fat Mike und Eric Melvin wird überaus humoristisch im Oi!-Nackenbrecher "The Brews" (kurz für Hebrews) behandelt und kommt gleichermaßen smart und doch prollig daher. Wie ausgerechnet ein Hooligan-Chor in das Konzept einer grundsätzlich so fein komponierten Platte passt, weiß allein das Universum.

Nach einer überladenen Hinführung ("The Quass") folgt wieder eine reine Hymne, glänzend, strahlend und doch bitter und vernichtend. "Dying Degree", die in Töne gegossene Erkenntnis, dass das Leben kurz sein kann, ein Mittelfinger in Richtung American Dream, alles eingepackt in künstlich schimmerndes Geschenkpapier. Die Drumpatterns sind meist die gleichen, aber alles andere würde hier den Fluss ruinieren. Allein der Chorus und die dazu gespielten Riffs lassen nur herzlose Menschen ohne Regung zurück.

Das verschmitzte, eher goldige "Fleas" klingt luftig und fröhlich und baut dabei erneut sehr geschickt die aufgekommene Bitterkeit ab. Kurz zumindest, nur wenige Sekunden von "Lori Meyers", und neue Betroffenheit macht sich breit. Der Gastauftritt der viel zu früh verstorbenen Kim Shattuck (The Muffs) als weiblicher Gegenpart von Mikes angegriffen wirkender Stimme, sprengt den Rahmen völlig. Sie keift, zetert und spuckt die Worte vor jedermanns Füße. "I ain't no Cinderella, I ain't waitin' for no prince", kreischt sie, und so richtig klar, worum es hier genau geht, wird es einem bis zum Ende nicht. Aber ein Happy End klingt sicherlich anders. Der Song ist ein ganz wunderbares Beispiel, wie man mit wiederkehrenden, nicht all zu komplexen Riffstrukturen eine unwahrscheinlich dichte Atmosphäre schaffen kann, auch wenn hier die sonst so präsenten Chöre fehlen.

Im Folgenden geht es sicherlich um Freunde und Bekannte aus dem Umfeld der Band. Die drei "Guys", nämlich Jeff ("Jeff Wears Birkenstocks"), der offenbar gerne Sandalen zur Arbeit trägt, sowie "Punk Guy" und "Happy Guy". So wird hier die PC-Punkpolizei aufs Korn genommen und dem frommen Menschen seine Erleichterung durch den Glauben zugestanden, alles schön umrahmt mit zwar unspektakulären, aber dennoch ergreifenden Melodien. Sensationell wird es im Finale mit der mit typischen Metaphern gespickten Hangover-Ode "Reeko", in der es mitnichten um eine durchgesoffene Nacht, sondern erneut um Politik und Gesellschaft geht. Zäher Reggae, beruhigend und beschwichtigend, ein desolat klingender Fat Mike und ein schön jazziges Solo – dann gehen zum letzten Mal die Gäule durch. Atemberaubendes Tempo und diese unfassbaren Melodien, viel passender kann ein Finale nicht ausfallen.

Wir schließen mit der akustischen Hobo-Ballade "Scavenger Type", ein Song der eigentlich nur am Ende stehen kann. Keine Aufregung mehr, kein Hoch, kein Tief. Es fühlt sich einfach nur gut an, der Job des Rausschmeißers wurde adäquat vergeben.

Schon damals, kurz vorher, währenddessen und vor allem nach der Zeit des Punk-Revivals gab es haufenweise Bands, die schnelle, melancholisch-fröhliche Musik zum Skaten, Tanzen und Nachdenken entwarfen. Doch kaum etwas davon war so mitreißend wie die Musik von NOFX. Die Band hat sich just aufgelöst und hinterlässt neben einer klaffenden Lücke einige Meilensteine, allen voran, als schönsten "Punk In Drublic".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Linoleum
  2. 2. Leave It Alone
  3. 3. Dig
  4. 4. The Cause
  5. 5. Don't Call Me White
  6. 6. My Heart Is Yearning
  7. 7. Perfect Government
  8. 8. The Brews
  9. 9. The Quass
  10. 10. Dying Degree
  11. 11. Fleas
  12. 12. Lori Meyers
  13. 13. Jeff Wears Birkenstocks
  14. 14. Punk Guy
  15. 15. Happy Guy
  16. 16. Reeko
  17. 17. Scavenger Type

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