laut.de-Biographie
Ornette Coleman
Ornette Coleman zählt zu den "herausragenden und umstrittenen Innovatoren in der Historie des Jazz'". Mit "Free Jazz: A Collective Improvisation" setzt sich der Saxofonist und Komponist 1961 endgültig über das akademische Regelwerk des Genres hinweg und gibt einer damals revolutionären Musik, die bis heute die Gemüter spaltet, einen Namen.
Bis zu seinem Tod bleibt der US-Amerikaner, der im Laufe seiner langen Karriere vor Klassik-, Funk- und Rock-Einflüssen nicht zurückschreckt, ein genialer Eigenbrötler, der anders musiziert und anders empfindet als die meisten seiner Zeitgenossen. Randolph Denard Ornette Coleman, so sein vollständiger Name, erblickt am 9. März 1930 in der texanischen Stadt Forth Worth das Licht der Welt und wächst in schwierigen Verhältnissen auf, die er selbst "poorer than poor" nennt. Nach dem Tod seines Vaters ist er schon in jungen Jahren von einem Elternteil abhängig. Mit 14 Jahren eignet er sich das Saxofonspiel mit Starrköpfigkeit und Hartnäckigkeit als Autodidakt an.
Während seiner High-School-Zeit spielt er in mehreren Rhythm And Blues-Formationen, handelt sich mit seinen unkonventionellen Improvisationen jedoch viel Ärger ein. Bei einem Konzert in Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana kommt es zu Handgreiflichkeiten mit wütenden Einheimischen, die sein Saxofon zertrümmern. Von zu Hause zieht er schließlich mit 19 weg, um der Armut und der Rassendiskriminierung im Süden der Vereinigten Staaten zu entfliehen.
In Los Angeles knüpft er wegen seiner "verkehrten" Spielweise auf seinem Plastiksaxofon zu Beginn der 50er-Jahre nur wenige Kontakte mit Gleichgesinnten und schlägt sich zunächst mit Hilfsjobs durch. Die Tournee des Blues-Gitarristen Pee Wee Crayton gerät für Ornette zum Schlüsselerlebnis. Er bringt sich im Eigenstudium Harmonielehre und Musiktheorie bei. Zunehmend entwickelt er aus den sprunghaften Phrasierungen von Charlie Parker eigene musikalische Konzepte, geprägt von einer harmonischen Freiheit, die man zur damaligen Zeit im Jazz kaum für möglich gehalten hat.
Dementsprechend gilt er zwar als Außenseiter, trifft aber nach und nach in L.A. auf Unterstützer, die sein Verständnis von künstlerischer Grenzenloigkeit teilen: den Trompeter Don Cherry, den Drummer Billy Higgins und den Bassisten Charlie Haden. Mit den beiden letztgenannten Musikern macht er 1958 Bekanntschaft in der Band des Pianisten Paul Bley, die Coleman und Cherry erweitern. Aus ihr entwächst das Ornette Coleman Quartet, nachdem Bley das Handtuch wirft. Erst einmal gastiert es in kleinen Clubs der Millionenstadt. Es landet zufällig bei Contemporary Records, weil das Label eines von Colemans Arrangements kauft, jedoch außer dessen Gruppe niemanden findet, der dieses auch darbieten kann.
Ende des Jahres veröffentlicht sie mit "Something Else!!!! The Music Of Ornette Coleman" ihr Debüt, das die hektischen Akkordwechsel und die Virtuosität des Bebops hinter sich lässt. Doch schwingt in den Improvisationen immer die Erdigkeit des Blues' mit. In den Liner Notes zur Platte betont der Saxofonist: "Ich glaube, dass die Musik irgendwann sehr viel freier sein wird." Für die entscheidenden Impulse sorgen er und seine Band. Neben vielen Kritikern kommen ebenso viele Bewunderer hinzu, als das Quartett im New Yorker Five Spot mehrere Wochen lang auftritt.
Auf Vermittlung von John Lewis landet es 1959 bei Atlantic Records. Die folgenden Alben, "The Shape Of Jazz To Come", "Tomorrow Is The Question!", das noch auf Contemporary Records erscheint, und "Change Of The Century", leben von Ornettes ausdrucksvoller Melodieführung, stellen allerdings die Möglichkeiten der Improvisation in einem bisher unerhörten Kontext, ausgehend von der Frage: "Was spielt man, wenn man das Thema gespielt hat, wenn man sonst nichts besitzt, woran man sich festkrallen kann?"
Die Antwort liefert "Free Jazz: A Collective Improvisation", für das der Saxofonist nicht nur ein Doppelquartett bildet, sondern dieses zu Improvisationen ermutigt, die in ihrer Fortschrittlichkeit die radikale Aufbruchsstimmung zu Beginn der 60er-Jahre im Jazz auf den Punkt bringen. Von nun an darf jeder einzelne Solist "jederzeit das Zepter an sich reißen". Wie das Cover des Action Painters Jackson Pollock andeutet, lockert die Scheibe die einstige Komplexität in dem Genre zu Gunsten einer intuitiveren Spielweise auf, frei von jeglichen Dogmen.
Manche Kritiker betrachten das Werk gar als Todesstoß für den Jazz, wie etwa John Tynan vom Downbeat, der in seiner Kritik schreibt: "Kollektivimprovisation? Unsinn. Die einzige Kollektivität besteht darin, dass diese acht Nihilisten zur gleichen Zeit im gleichen Studio mit der gleichen Intention angetreten sind: die Musik zu zerstören, der sie ihre Existenz verdanken."
Heute kommt keine Enzyklopädie des Genres ohne "Free Jazz: A Collective Improvisation" mehr aus, obwohl man Coleman nicht einzig auf diese Scheibe reduzieren sollte. So gewinnt sein Spiel auf den beiden nachfolgenden Platten, "Ornette!" und "Ornette On Tenor", beide von 1962, vermehrt an Ausdruck, obwohl ihnen die revolutionäre Stimmung der Vorgänger fehlt.
In seinem Quartett scharrt er vorwiegend starke Persönlichkeiten wie Jimmy Garrison und Scott LaFaro um sich herum. Der letztgenannte scheidet 1961 bei einem Autounfall viel zu früh aus dem Leben. 1964 geht dann auch noch Ornettes Ehe mit der Dichterin Jayne Cortez in die Brüche, die er schon zehn Jahre zuvor in Los Angeles heiratet. Aus der Verbindung resultiert ein gemeinsamer Sohn, Denardo, der sich 1966 mit gerade einmal zehn Jahren zum ersten Mal auf einer Aufnahme seines Vaters als Drummer beteiligt, nämlich auf "The Empty Foxhole".
Danach versucht sich der Saxofonist auf seinen Alben als Trompeter und Violinist und tritt vermehrt als Komponist in Erscheinung. So stammen die überirdischen Streicherarrangements auf Alice Coltranes "Universal Consciousness" (1971) aus seiner Feder. Weiterhin öffnet er sich nach und nach Einflüssen außerhalb des Jazz'.
Dank eines Major-Deals mit Columbia hat er darüber hinaus die finanziellen Möglichkeiten, vom 17. bis zum 20. April 1972 zusammen mit dem London Symphony Orchestra in den berühmten Abbey Road Studios in London mit "Skies Of America" eine großorchestrale Komposition zu verwirklichen. Im Begleittext zum Werk führt er erstmalig für sein künstlerisches Verständnis von Tonalität und Gruppendynamik das Schlagwort "Harmolodics" ein. Was der Begriff genau bedeutet, weiß im Grunde genommen nur er.
Doch erst auf einer Pilgerreise in das marokkanische Rif-Gebirge, als er zusammen mit den in der Sufi-Tradition stehenden "Master Musicians of Joujouka" musiziert und dadurch ganz der Trance und dem Rausch verfällt, findet er zur Seele seiner Musik zurück.
Im Anschluss gründet er die Band Prime Time, bestehend aus eben diesen Musikern und weiteren Instrumentalisten wie Bern Nix an der Gitarre oder Robert Palmer an der Klarinette, die mit ihren tanzbaren Rhythmen und schwebenden Improvisationen die Basis für den Free Funk legt, während Coleman mit seinen Soli die Grenzen zwischen Avantgarde und Unterhaltung hinter sich lässt. "Dancing In Your Head" von 1977 stellt ein erstes grandioses Zeugnis dieses "telepathisch anmutenden Zusammenspiels" dar.
Im Laufe der nächsten Jahrzehnte greift Ornette diverse Einflüsse aus indischer und europäischer Musik, Rock und Hip Hop auf.
Da mutet "Song X" von 1986, sein gemeinsames Album mit dem Gitarristen Pat Metheny, wie eine Rückkehr in avantgardistische Gefilde an, doch bei genauerer Betrachtung stacheln sich die beiden Solisten gegenseitig dazu an, das Bestmögliche aus ihrem Spiel herauszuholen, so dass es auf jeden Fall zu den großartigsten Leistungen in der gesamten Karriere des Saxofonisten gehört. In einem Interview sagt Metheny: "So etwas wie mit Ornette habe ich noch nie erlebt: Wir haben von jedem Track fünf oder sechs Takes gespielt, und man hätte jeden einzelnen benutzen können."
Daneben entstehen bis Mitte der 90er-Jahre Platten mit Prime Time. Eine Menge Zuspruch erhält der US-Amerikaner für das Album "Colors: Live From Leipzig" mit Joachim Kühn von 1997, das mit kammermusikalischen Improvisationen aufwartet, die sich über die Grenzen von Klassik und Jazz hinwegsetzen. 2003 steuert er für Lou Reeds mehr als gewöhnungsbedürftigen Neubearbeitung von Edgar Allen Poes "The Raven" ein paar Soli bei.
Für sein letztes Album "Sound Grammar", ein Live-Mitschnitt aus dem Feierabendhaus der BASF in Ludwigshafen vom 14. Oktober 2005, bekommt er 2007 sogar den renommierten Pulitzer-Preis in der Kategorie Musik verliehen. Zudem demonstriert er auf dem Werk, dass seine Schaffenskraft ungebrochen scheint. Am 11. Juni 2015 schließt er in New York nach einem Herzstillstand seine Augen für immer.
Eventuell meint er mit seinen "Harmolodics", die Trennung "der Klassen, der Rassen und der Fähigkeiten" aufzuheben. So stehen für Coleman alle Musiker in seinen Bands in gleichberechtigter Beziehung zueinander, egal aus welchen Verhältnissen sie entstammen oder welche Hautfarbe sie haben. Deswegen strahlt seine Musik nach wie vor etwas Magisches aus. Dies färbt beispielsweise auf John Zorn, Nels Cline, Henry Threadgill oder Ravi Coltrane ab, die allesamt Ornette ihren Tribut zollen.
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