laut.de-Kritik

Der König des Soul verändert die Musikgeschichte.

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Es gibt nur sehr wenige Künstler, die für so viele zeitlose Klassiker verantwortlich zeichnen wie Ray Charles. Der König des Blues, Soul, Rhythm and Blues - keiner prägte den Klang der Nachkriegszeit so wie er. Von "I've Got A Woman" über "This Little Girl Of Mine" zu "Halelujah I Love Her So" oder "Hit The Road Jack" lässt sich die Liste an Hits, die auch sechzig Jahre später noch in aller Ohren sind, schier endlos fortführen.

Ray Charles, der gebürtige Südstaatler, der während seiner Kindheit an einem Glaukom erblindete und in bitterer Armut aufwuchs, war Zeit seines Lebens ein Garant für großartige, mitreißende Musik. In seiner Zeit bei Atlantic Records, dem Label, das so vielen legendären Künstlern eine musikalische Heimat bot, prägte er den Sound einer ganzen Ära und unzählige Künstler gleich mit. Elvis Presley, Aretha Franklin, Stevie Wonder, Pink Floyd, Billy Joel - man kann sich kaum vorstellen wie die Musiklandschaft heute aussehen würde, hätte es Ray Charles nie gegeben.

Und das gilt nicht nur für Soul und Rock'n'Roll, sondern auch für ein Genre, das, bevor Ray Charles sein schillerndes Licht darauf scheinen ließ, eher auf den verstaubten Holzverandas ländlicher Einöde und in kleinen Saloons entlang der einsamen Straßen des Südens zu finden war: Country.

Als Ray Charles Ende 1959 von Atlantic zu ABC wechselt, sichert er sich nicht nur einen der bis dato lukrativsten Deals der Musikgeschichte, sondern auch eine enorme künstlerische Freiheit. Und die will er nutzen. Nachdem er die Gemüter der Labelbosse mit der bluesigen Ballade "Georgia On My Mind" fürs erste in Sicherheit wiegt, stößt er sie nur kurz darauf mit einem waghalsigen Vorhaben vor den Kopf: er will "Modern Sounds In Country And Western Music" aufnehmen. Ein Country-Album.

Country?! Zur damaligen Zeit muss das ähnlich absurd geklungen haben wie die Idee, dass Heino Rammstein oder Absolute Beginner covert. Denn Country war ein weiß dominiertes Genre von Weißen für Weiße, die in ländlichen Gegenden ein recht einsames Dasein fristeten. Nichts für die großen Bühnen und extravaganten Nachtclubs, in denen Charles sein Publikum zur Ekstase brachte.

Für den Jahrhundertsänger selbst war die Idee allerdings eher eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Ray Charles begann seine Karriere u.a. als Pianist für Hillbilly Bands - und wuchs im tiefsten Georgia natürlich auch mit den Klängen von Banjo, Kontrabass und Pedal-Steel auf. Ihm ging es dabei aber vor allem um die Geschichten, die im Country erzählt wurden. Denn ähnlich wie im Blues finden sich hier wahnsinnig ergreifende Texte, die mit schönen Versen ungeschönte Emotionen ausdrücken. Und Ray Charles, der sein eigenes Songwriting quasi schon an den Nagel gehängt hatte, wollte diese Geschichten unter die Leute bringen.

Also machte er sich, dank vertraglich gesichterter Narrenfreiheit, prompt ans Werk. Für "Modern Sounds In Country And Western Music" coverte er zwölf Songs von einem erlesenen Kreis an Künstlern. Seine größte Inspiration für das Album war Hank Williams - und das hört man auch. Nicht nur, weil mit "Half As Much", "You Win Again" und "Hey, Good Lookin'" gleich drei Songs des Sängers aus Alabama auf dem Album landeten, sondern weil Hank Williams' leidender Gesang und Pathos spürbar den Grundstein für Charles' Intonationen legten.

Ray Charles wäre aber natürlich nicht 'The Genius', wenn er den Vocals nicht seinen ganz eigenen Twist geben würde. Mithilfe der Arrangements von Sid Feller, der noch 30 weitere Jahre sein Haus- und Hof-Produzent bleiben sollte, gelang ein Kunststück sondergleichen. Schwere Texte voller Leid, Depression und Einsamkeit, gehüllt in ein schillerndes Kleid aus mitreißendem Rhythm and Blues und melodramatischen, cineastischen Balladen.

Wie gut das funktioniert hört man bereits bei "Bye Bye Love", dem Klassiker der Everly Brothers und Opener des Albums. Ein breites Bläser-Orchester, soulige Gesangsunterstützung von den Raylettes, Charles' Backgroundsängerinnen in wechselnder Besetzung, Charles samtweiche, energisch-leidende Stimme und dazu ein jazziges Piano-Solo. Statt Tumbleweed, Schlapphut und Grashalm im Mundwinkel gibt es gebonerten Lackboden, grelle Scheinwerfer und feinsten Abendzwirn mit Perlenschmuck und Zigarettenspitzen.

Danach wird es zunächst ruhiger, mit zwei Balladen: Eddy Arnolds "You Don't Know Me" und Hank Williams "Half As Much". Beide begeistern, wie eigentlich alle Songs des Albums, mit ihrer wahnsinnig atmosphärischen Wirkung und der rührenden Vertonung. Während "You Don't Know Me" gar nicht so weit vom eh schon recht bluesingen Original ist, wird bei "Half As Much" der Unterschied zwischen Ur-Lied und Cover umso deutlicher. Statt Hillbilly-Feeling bekommt diese Herzschmerz-Nummer eine unheimliche Anziehungskraft durch die rollenden Bläser - und Ray Charles selbst. Der Sänger beweist hier eindrucksvoll, warum er als einer der besten Sänger des vergangenen Jahrhunderts gilt: in jedem Vers, jeder langgezogenen Silbe, steckt pure Emotion. Leid, Verzweiflung, Wut und Liebe - alles liegt verdammt nah beieinander, manchmal trennt sie nicht mal ein Atemzug. Ganz so, wie es im echten Leben eben auch passiert.

Und so fädelt sich das Album durch seine Spielzeit. Auf herzzerreißende Balladen folgen schwungvolle, rhythmische Soul-Nummern, die dank festgezurrtem Pop-Korsett aus konstanten Wiederholungen unheimlich eingängig sind. Pompöse Nummern wie "Just A Litte Lovin' (Will Go A Long Way)" - im Original übrigens ebenfalls von Eddy Arnold - profitieren vom Pop-Prunk genauso wie das bluesige "Worried Mind". Letzteres weicht in der Interpretation wohl am weitesten vom Original ab. Während Buddy Guy für sein gebrochenes Herz eine wilde, energisch-rockige Instrumentalisierung wählte, die mit einer fast schon psychedelischen Gitarre und einem abgefahrenen Piano aufwarten, machte Charles aus der Nummer eine sanfte, getragene Ballade, die er leise ins Mikro säuselt.

Zum großen Finale von "New Sounds In Country And Western Music" bringt Ray Charles die pompöse Variante von Don Gibsons "I Can't Stop Loving You", das in dieser Variante heute wohl zu einem echten Klassiker geworden ist. Das schillernde "Hey, Good Lookin'" bildet einen schwungvollen Abschluss - und hinterlässt ein federleichtes Gefühl, das die Lust aufs Leben weckt.

Wer sich "New Sounds In Country And Western Music" einmal zu Gemüte geführt hat, versteht, warum kurz darauf die Fortsetzung des Albums erschien. Das Album, das auch gute sechzig Jahre nach seiner Veröffentlichung noch immer mitreißt, spiegelt wie kaum ein anderes die Seele, das Können und die Virtuosität seines Interpreten. Und das, obwohl es sich hierbei ausschließlich um Cover-Versionen handelt. Mal ganz abgesehen davon, dass Ray Charles damit die Musiklandschaft veränderte und Country quasi über Nacht auf die großen Bühnen des Landes hievte. Im Alleingang aus einer Laune heraus. Ganz 'True Genius' eben.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Bye Bye Love
  2. 2. You Don't Know Me
  3. 3. Half As Much
  4. 4. I Love You So Much It Hurts
  5. 5. Just A Little Lovin' (Will Go A Long Way)
  6. 6. Born To Lose
  7. 7. Worried Mind
  8. 8. It Makes No Difference Now
  9. 9. You Win Again
  10. 10. Careless Love
  11. 11. I Can't Stop Loving You
  12. 12. Hey, Good Lookin'

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