laut.de-Kritik

"Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören."

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"Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas." Diese Zeilen aus Herman Hesses "Demian" (1919) inspirieren Carlos Santana im Frühjahr 1970 zu einem der wichtigsten Alben der Rockgeschichte. "Abraxas" verankert den Latin Rock im kollektiven Musikgedächtnis und beweist nebenbei, dass monumentaler Erfolg und künstlerischer Anspruch kein Gegensatz sein muss.

"Ich spiele Musik so wie du Sex hast ... und gleichzeitig das 'Ave Maria'", sagte Santana einmal über seinen Stil. Das lakonische Bonmot illustriert Santanas ganzheitliche musikalische Vision. Obwohl tiefgläubig und gottesfürchtig, steckt in ihm zeitlebens jener freigeistige Philantrop, der Fleischeslust, Lebensfreude und Empathie über verknöcherte Dogmen des Katholizismus stellt.

Bevor dies alles auf neun Liedern für die Welt nachhörbar wird, gibt es für das klassische Line-Up der Santana-Band gleichwohl eine Menge zu tun. Mitte April 1970 liegt der furiose Durchbruch des Woodstockauftritts samt Charterfolg der Debüt-LP erst wenige Monate zurück. Doch echte Zufriedenheit stellt sich bei Don Carlos trotz aller Anfangslorbeeren nicht ein. Der Sound des Erstlingswerks liegt im quer im Magen, die Arrangements kommen ihm nicht ausgefeilt vor.

So steckt das Sextett nahezu den gesamten Gewinn in die damals modernste Technik und jammt Tag und Nacht, bis die Lieder langsam aber sicher das Licht der Welt erblicken. Ob Zufall oder Schicksal: Die Methode birgt eine weitere Parallele zum von Santana verehrten Hesse-Roman. "Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas."

Das Ergebnis ist in doppelter Hinsicht jeden Kniefall wert. Zum einen geraten die Songs in höchstem Maße filigran, facettenreich und detailverliebt. Allein schon das nicht einmal dreiminütige "Se A Cabo" transportiert mit perkussiver Stereospielerei eine vielschichtige Frische, die in jenen frühen Tagen absolut einmalig ist. Sexy Salsa-Rock der Spitzenklasse!

Zum anderen - man glaubt es kaum - gelingt ihnen der komplette Prozess 'Jamming - Komposition - Arrangement - Mix - Produktion' in rekordverdächtigen zwei Wochen. Bereits Anfang Mai ist "Abraxas" komplett im Kasten. Das Resultat ist meisterhaft.

Das Windspiel "Singing Winds, Crying Beasts" ist eine der schönsten Einleitungen aller Zeiten. Simultan verströmt es meditative Ruhe und pulsierende Dynamik. Während die Leidenschaft dort eher glüht, wächst sie spätestens mit "Incident At Neshabur" zum verzehrenden Flammensturm. Ein Riff so hart wie damals höchstens Deep Purple, dazu der Veitstanz einer regelrechten Höllenorgel und ganz viel flirrender Salsa geben den Ton an. Gitarrensolo und Piano wandeln zwischen Jazz und zum Ende Bossanova. Ein Killer unter Killern!

Besonders die zwischendurch immer wieder eingeflochtenen jazzigen Passagen zeigen Santanas nahe Verwandtschaft zu John McLaughlin. Kein Zufall! Letzterer erwarb sich bereits einen exzellenten Ruf durch seine Arbeit für Miles Davis "Bitches Brew" und jammte ausgiebig mit Jimi Hendrix. Santana schätzte das Spiel des Jazz-Gurus schon damals über alle Maßen. Er veröffentlicht kurz darauf ein komplettes Album mit ihm ("Love Devotion Surrender", 1973). Bis heute treten beide gern zusammen zusammen auf und inspirieren einander.

Und dann gibt es noch diese drei unzerstörbaren Welthits. "Oye Como Va" ist die ultimative Eggshaker-Orgie überhaupt. Das Duell von Gitarre und Orgel pflügt im Verlauf den Rahmen - halb Salsa, halb Bossa - mit fettem Rock um. Hernach gelingt der absolute Feuerzeugmoment: Das langsame "Samba Pa Ti" erkennt man auf der ganzen Welt. Es ist der dienstälteste Evergreen im Kanon großer, romantischer Gitarrennummern wie "Stairway To Heaven", "Parisienne Walkways" oder "Nothing Else Matters".

Absoluter Höhepunkt jedoch ist "Black Magic Woman/Gypsy Queen". Ironisch, dass ausgerechnet Santanas Visitenkarte kein eigenes Stück der Band ist, sondern ein Cover von Peter Greens 1968er Fleetwood Mac-Original. Ein Cover? Ach was, es ist viel mehr. Santana interpretiert das Stück um, deutet es musikalisch individuell und kombiniert es kongenial mit Gábor István Szabós Klassiker "Gypsy Queen".

Santanas eleganter Latino-Drive gilt zu Recht als ultimative Version des Songs. Mit dieser Hymne auf den schwarzmagischen Fluch und Segen der Weiblichkeit schließt er vollends den Kreis zu Hesse, denn "unser Gott heißt Abraxas, er ist Gott und Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Singing Winds, Crying Beasts
  2. 2. Black Magic Woman / Gypsy Queen
  3. 3. Oye Como Va
  4. 4. Incident At Neshabur
  5. 5. Se A Cabo
  6. 6. Mother's Daughter
  7. 7. Samba Pa Ti
  8. 8. Hope You're Feeling Better
  9. 9. El Nicoya

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6 Kommentare mit 10 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Schöner Text. Längst hinfällig. Bevorzuge dennoch die Fusion-Phase, vor allem "Caravanserai".

  • Vor 7 Jahren

    Ulf vergreift sich also wieder an einem Text der zu einer Zeit erschien als er noch nicht fühlen konnte was diese Music aus einem machen kann. Santanan ist natürlich einer der Helden die zur früheren Zeit gestürmt sind auf den Rockolymp und uns stürmisch im Sturme erobert haben wie das volk von Sparta. Die geile Gitarre wurde zu einer Lanze in der Hand von Carlos S und sie verspritzte eine Energie wie man sie nur selten gehört hatte bevor es damals üblich wurde. Ich würde diesem Album natürlich auch die VOLLEN FIVE POINTS geben wie ihr euch es denken könnt, aber ich will euch auch davon berichten was passierte als ich mir diese Scheibe das erste mal zu meinem noch nicht gekühlten Mütchen führte:

    Im Januar 75 war ich gerade dabei ein Butterbrot zu essen, wie man es damals ja noch öfter getan hatte als heute und ich lief an einem Laden für Music und Platten vorbei. Ich ging hinein und hinter dem Tresen sa´ß eine galante Frau in den Jugendjahren. Sie hatte eine nalten Poncho an und Flowers in her Hair wie sie auch bereits nach Sankt Franzisko getragen wurden sind.

    Ich sagte: "Hey schöne Madame, ich bin der WIlli und ich suche eine neue Rockmusicplatte was empfiehlst du DIrne mir also?"

    Sie sagte: "Howdy WIlli ich höre gerade die Abraxus von dem Carlos Santander. Er macht greatest Guitarmusic. WIllst du sie hören?"

    Natürlich wollte ich und als die wabernden Schalmeien erklangen dancten wir in verzückter Extasy dur den Laden eng umschlungen wie in einer wabernden WUnderwelt geschaffen von unserem Zermenonienmaster of Music Carlos Santana. Es war ein wahres Erlebnis und die Platte war für immer in meinem Herzen verankert wie ein tonnenschwerer Dreidecker der vor Kap Horn vor Anker geht.

    Gruß WIlli

    • Vor 7 Jahren

      Die Implikation, dass man "dabei gewesen sein müsse", um eine adäquate ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks zu haben, ist doch völliger Quatsch. Wenn das so wäre, dürfte heute ja niemand mehr Urteile über Kunst fällen, die vor ca. 1920 entstanden ist. Der umgekehrte Fall ist vielmehr (oft genug jedenfalls) der Fall: eine gewisse Distanz ist der Reflexion auf eine Sache nicht selten zuträglich, während allzu große Unmittelbarkeit blind und jede sinnvolle Kritik unmöglich machen kann.

    • Vor 7 Jahren

      Wir würden gerne mehr von der schönen Dirne hören, sie scheint mir wirklich sehr schön gewesen zu sein.

    • Vor 7 Jahren

      Snatiago, Santiago, Santiago... du hast nicht zu verstehen versucht was ich mit meiner Kritik am Kritiker Ulf zum Ausdruck bringen wollte, ja gebracht habe oder wie? Es geht und ging immer darum das er sich gar nicht aufgemacht hat zu einer Zeitreise in die Epoche in der Carlos gelebt und gewirkt hat und zu einem Ruhm kam durch sein Rockgitarre. Wer klug scheissen will sollte nicht auf den Korinthen ausrutschen. :P

      Mahatma ja sie war eine sehr schöne und freizügige Dame wie es damals noch oft üblich war in der zeit der 70er years. Vielleicht werde ich noch einmal berichten über sie wir werden sehen

    • Vor 7 Jahren

      zu großes kino.

    • Vor 7 Jahren

      @Paranoid

      Was meinst du? Meine Kritik zu Carlos seinem Album? Sie ist denke ich schon gut geschrieben aber warum Lichtspielhaus?

    • Vor 7 Jahren

      yo, deine kritik. lichtspielhaus weil sie so ein feuerwerk ist, sieht man sonst nur im kino..... :rolleyes:

    • Vor 7 Jahren

      Ich danke sehr für diese netten Worte Paranoid. Ja es ist schon so das ich mir viel Mühe gebe bei der Besprechung von Albuma die es verdient haben das man über sie spricht und dann ja auch über sie schreiben tut.
      Bei laut muss man, leider sage ich, auch manchmal auf Mengel hinweisen in den Kritiken da die Autoren ihr Handwerk oft nicht richtig beherschen tun und sowas eigentlich nicht geht auf einer Bezahlseite was laut.de ja nunmal ist wo man schon profesionalisierte Kommentare der Schreiberlinge erwarten können dürfte ja eigentlich sogar muss weil wer will schon falsche Infos und Kritiken lesen wen es auch besser geht oder irre ich mich da? Ich denke es nicht.

      Beste Grüße Willi

    • Vor 7 Jahren

      Dem Text nach hat Willi seit Anfang der 70er gekifft - bis heute!

  • Vor 7 Jahren

    Mich würd' interessieren, woher das "ich spiele Musik, so wie du Sex hast"-Zitat stammt...

  • Vor 7 Jahren

    Jingo müsste noch drauf sein, dann würde sie als Best of durchgehen.