laut.de-Biographie
Shantel
Von Stefan Hantel bis Shantel ist es kein weiter Weg. So sei gleich zu Beginn das Rätsel um Shantels Pseudonym gelöst. Aber was ist das eigentlich für ein Typ, der aus seinem gewohnten Downbeat-Umfeld ausbricht, um sich der Verbreitung von Balkan-Rhythmen zu widmen? Polka-Brass-Beat im Club? Funktioniert das? Aber hallo!
Auf die Welt kommt Hantel 1968 in Frankfurt/Main, wo er auch aufwächst. Die persönliche Beziehung zu Mainhatten gestaltet sich eher angespannt. Von der Bankenmetropole, ihrem Flair und ihrer Ausstrahlung hält er eher wenig bis gar nichts ("total charakterlose Stadt"). Deshalb taucht bei Shantel der Name Frankfurt am Main auch nicht auf. Überall, wo dies stehen könnte, ersetzt er es durch Frankfurt am Meer. "Wir erfinden uns einfach all das, was Frankfurt nicht hat. So lässt es sich hier gut aushalten". Den Bezug zur Clubkultur und elektronischer Musik stellt er jedoch gar nicht im Techno-Mekka der Neunziger her, sondern 1991 während seines Aufenthaltes in Paris, wo er zum Studium des Grafikdesigns weilt. Dort gebiert sich die elektronische Musik etwas weniger heftig, französisches Savoir Vivre eben. Und das bringt Shantel mit nach Deutschland, wo er sich als DJ schnell einen Namen macht und im Frankfurter Rotlichtviertel seinen eigenen Club, Lissania Essay, eröffnet.
Frustriert über den mangelnden qualitativen Output, den er in seine Sets integrieren kann, beginnt er bald, eigene Sachen zu produzieren. Mit seinem DJ-Buddy Daniel Haaksmann hebt er 1994 das Label Essay Recordings aus der Taufe, um seiner Definition von grooviger Clubmusik zu frönen. Die deckt sich zufälliger Weise mit der anderer Größen, die zu der Zeit mit sanfteren elektronischen Klängen experimentieren. Kruder & Dorfmeister etablieren den Downbeat zwar, Shantel fährt unabhängig vom Wiener Duo eine ähnliche Schiene. Die musikalische Seelenverwandtschaft schlägt sich denn auch in verschiedenen gemeinsamen Arbeiten und DJ-Sets nieder.
1995 erscheint über Infracom das erste Shantel-Album "Club Guerilla", 1996 verwenden K&D von Shantels zweitem Album "AutoJumps & Remixes" den Track "Bass And Several Cars" für ihr DJ Kicks-Album. Der Geremixte schlägt zurück und bedankt sich mit einer "Fuck Dub"-Version für Tosca. "Higher Than The Funk" kommt 1998 auf den Markt. Stefan entwickelt seine Funk, Soul und Dub-Derrivate weiter. Die Scheibe erscheint bei !K7, das sich immer mehr als Hort des guten Geschmacks etabliert.
1999 zieht er vorübergehend in die israelische Metropole Tel Aviv, um dort am Nachfolger "Greatdelay" zu arbeiten. Justament als das Album im Kasten ist, bricht die zweite Intifada aus, was ihn aber nicht daran hindert, dort weiterhin Platten aufzulegen.
2000 unternimmt Shantel so etwas wie eine Bildungsreise in eigener Sache. Er besucht die Heimatstadt seiner Großeltern, Czernowitz. Die in der heutigen Ukraine liegende Stadt ist die Hauptstadt der Bucovina, einem Gebiet, in dem verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander prallen. Dazu gehört natürlich auch Musik, und die fährt ihm wie ein Blitz in den Hintern, obwohl er die Musik der Roma Blasorchester schon seit seiner Jugend kennt. Das muss ihn derart begeistert haben, dass er sein künstlerisches Schaffen überdenkt. Er beginnt damit, Osteuropäische Trötenmusik zu remixen, begeistert sich für die Taraf De Haidouks, Boban Markovic, die Fanfare Ciocarlia und die Rhythmen eines Goran Bregovic. So entstehen Songs, die mit dezenten elektronischen Einschlägen durchaus den Club rocken könnten.
Den Konjunktiv streicht Shantel 2002, als er im Frankfurter Schauspielhaus zum ersten Mal zum Bucovina Club lädt. Das Konzept funktioniert, die Leute sind aus dem Häuschen. Spätestens nach seiner vielumjubelten Scheibe "Bucovina Club", auf der er Eigenkompositionen, Remixe und Songs anderer Künstler zu einer aufregenden, tanzbaren Melange vereint, ist er Everybody's Darling. Mit dem Bucovina Club geht er auf Reisen und heizt den Besuchern dabei kräftig ein. Anfang Juni 2005 dreht das hessische Fernsehen einen Bericht über den umtriebigen Shantel, und auch das ZDF lässt für "Aspekte" die Kameras laufen, während er in Czernowitz das ehemalige jüdische Nationalhaus rockt.
Der Bucovina Club lebt indes weiter und gedeiht. Das Ergebnis der Reisen, DJ-Sets und Treffen mit anderen Bands kulminiert im zweiten Teil der Bucovina Club-Reihe, die Anfang Juli 2005 das Licht der Welt erblickt und nicht minder erfolgreich ist als der erste. Im Anschluss ist er mit dem Bucovina Club Orkestar allerorten zu bewundern. Daneben macht der Club in unzähligen Dissen Station, der Wodka fließt in Strömen.
Im August 2007 erscheint dann endlich wieder originäres Material von Shantel. Für "Disko Partizani" versammelt er eine ganze Latte prominenter Gypsy-Musiker um sich. So zum Beispiel Marko Markovic, den Sohn des berühmten Boban.
Nach dem Release kann die Scheibe, die landauf landab in den Feulletons hochgejubelt wird, in die Charts von Deutschland und Österreich einsteigen. In dieser Hinsicht tut sich in der Türkei noch Bemerkenswerteres, denn am Bosporus knallt das Album direkt auf die Pole Position. Derweil Hantel darob eine Flasche Schnappes mit seinen Kumpels leeren kann, ist er wieder live unterwegs, mal mit Orchester, dann wieder alleine als DJ. Der Bucovina Club lebt!
Mit "Planet Paprika" knüpft Shantel 2009 unter Hinzunahme von Autotune nahtlos an "Disko Partizani" an. Mit "Anarchy + Romance" versucht er sich dann als Pop/Rock-Songwriter im klassischen Sinne. Das Album kommt 2013 auf den Markt. Dem folgt ein Jahr danach ein Live-Album namens "The Mojo Club Session", das ausschließlich auf Vinyl erscheint. Auf dem nächsten Studiowerk des Frankfurters, "Viva Diaspora", gibt es dann 2015 Einflüsse aus der Diaspora zu hören, wobei reichlich Offbeat im Fokus steht. Im dreißigsten Jahr seiner Karriere lädt Shantel schließlich mit dem 34 Tracks starken "Shantology - The Bucovina Club Years" zu einem Streifzug durch seinen umfangreichen Katalog ein. Die Best-Of bildet den ersten Teil der "Shantology-Trilogie", die unter dem Banner "30 Years Of Club Guerilla" auf die Tanzfläche schreitet.
Bevor der Producer die restlichen Teile verwirklicht, tut er sich mit den Istanbulern von Cümbü? Cemaat zusammen. Die schöpfen aus einem Repertoire aus rund 500 Songs, die sie jedoch bis auf eine Ausnahme nie eingespielt haben. Stefan Hantel lädt sie in sein Studio in Frankfurt ein, um daraus zehn Tracks auszuwählen und auf Tonträger zu bannen, die ihm und der Truppe schon immer am Herzen gelegen haben. Am Ende steht mit "Istanbul" eine recht vielseitige Scheibe, die die traditionell modalen Strukturen der Band mit Shantels Produktionsfähigkeiten im Einklang bringt. Sie erscheint im Frühjahr 2020.
Dementsprechend hat sich Stefan Hantel längst vom Balkan-Beat gelöst. Es geht ihm um "Selbstverwirklichung als Musiker, als Künstler", erklärt er anlässlich der Verleihung des BBC-Worldmusic-Awards. Aber gerade weil er sich nicht um bestimmte Kategorisierungen und Schubladen schert, bildet er das musikalische Aushängeschild eines multikulturellen Deutschlands.
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