laut.de-Kritik
Die Elfen verbluten auf den Spitzen rostiger Gitterzäune.
Review von Sven KabelitzSchnipps! Hallo, wach. All ihr Sigur Rós-Hörer, die ihr euch seit den letzten Tönen des Wiegenlieds "Fjögur Píanó" von "Valtari" im Dornröschenschlaf befunden habt und trantütig durch die Großstadtstraßen getaumelt seid: Es wird Zeit, aufzuwachen. Husch, Husch, die ersten giftigen Bassschläge auf "Kveikur" sind bereits im Anmarsch. Brennisteinn, Brennisteinn, alles muss versteckt sein.
Nach Kjartan "Kjarri" Sveinssons Ausstieg bleibt der Restbesetzung aus Gitarre, Bass und Schlagzeug nichts anderes übrig, als sich aus der Komfortzone, in der sie es sich zuletzt all zu bequem gemacht hatten, zu erheben. Jeder wusste in etwa, was ein neues Album der Isländer zu bieten haben sollte. Nun setzt sich die aufgestaute kreative Energie explosionsartig frei. Wer sich bisher mit Sigur Rós nicht anfreunden konnte, sollte es mit "Kveikur" noch einmal versuchen.
Viel hat sich im Grunde gar nicht verändert. Nach wie vor stehen Klang und Stimmung im Vordergrund, bilden auf dem siebten Studioalbum eine undurchdringliche Phalanx. Doch mittlerweile hat sich die Atmosphäre von locker und lebensbejahend ("Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust") zu nackter Aggression gewandelt. Erstmals seit langer, langer Zeit klingen Sigur Rós wieder aufregend. Die oft zur Beschreibung ihres Sounds herangezogenen Elfen, Feen und Trolle spießt die Band auf die Spitzen rostiger Gitterzäune und schaut ihnen genüsslich beim Ausbluten zu.
Dabei ergeht es dem Album wie dem Elefantenmenschen Jospeh Merrick, an dessen Maske das Coverdesign unterbewusst erinnert. Offenkundig durch Lärm entstellt, finden sich unter der abstrusen Oberfläche Zerbrechlichkeit, Anmut und vornehme Traurigkeit.
Gleich im Opener "Brennisteinn", in dem sich zusammen mit dem Titel-Track die Wandlung am deutlichsten offenbart, treffen knarzende Bassschläge streitsüchtig auf Birgissons nach wie vor entrückten Gesang. Wie Warnsirenen jammernde Gitarren und ein schattenhaft groovendes Schlagzeug fügen sich zu einem beklemmenden Gebilde zusammen. Eine Shoegazing-Eruption, zu der geistesabwesend der unglaubliche Hulk tanzt.
"Kveikur" selbst blutet aus allen Wunden. Ein Aufruhr, ein Höllenspektakel, unter meisterhafter Nutzung von Deformation und Verzerrung. Eine Dampfwalze, die das Schlagzeug zertrümmert, die Gitarre schändet und den Bass zerfetzt.
Die Intensität lässt sich auf Albumlänge nur schwer halten. Trotzdem bewahren sich die einzelnen Songs den schrundigen Grundton. Dýrasons Percussions in "Hrafntinna" wirken wie ein korrodiertes Windspiel, das den Eingang zu einem Antiquitätenladen bewacht. Aus einer staubigen Ecke zaubern Sigur Rós die Erinnerung eines zurückgelassenen Refrains.
Überhaupt scheinen sich die Isländer über Jahre hinweg ihre schönsten Melodien für diesen hartkantigen Longplayer aufgehoben zu haben. "Ísjaki" stapft militärisch durch tiefen Schnee, nur um im gleichen Moment einen Blick durch ein strahlendes Kaleidoskop der Farben zu werfen. Ein euphorischer Chorus, eingängig, emotional doch niemals kitschig, verleiht dem Lied den letzten Schliff. Herzzerbrechend.
Naturgemäß liefert man sich bei dem Versuch, neue Wege zu beschreiten, der Gefahr aus, sich zu verrennen. Nicht jeder Schritt kann schnurstracks geradeaus gehen, manch einer landet gar in einem Matschloch. "Rafstraumur" verläuft sich in Coldplays breitarmiger "Mylo Xyloto"-Gefühlsduselei. Für einen kurzen Moment klingt Sänger Jónsi wie ein rückwärts abgespielter Chris Martin. Zum Glück eine einmalige Ausnahme.
Mit elegischem Piano und traurigen Streichern legt uns der Schlußtrack "Var" zärtlich dorthin zurück, wo uns "Brennisteinn" aufgefunden hat. Die Spindel sticht, der Schlaf setzt ein. Langsam wächst die Dornenhecke wieder zu. Adieu, Realität. Bis zur nächsten Sigur Rós-Wundertüte.
39 Kommentare
JETZT darf ich's streamen.
"Die oft zur Beschreibung ihres Sounds herangezogenen Elfen, Feen und Trolle spießt die Band auf die Spitzen rostiger Gitterzäune und schaut ihnen genüsslich beim Ausbluten zu." Sehr gut! Besser kann man nicht beschreiben, wie es einem geht, wenn man die ersten paar Töne von 'Brennistein' hört. Habs jetzt zwei Mal durchgehört und bin mit dem Rezensenten einer Meinung: Sie haben die Kurve gekriegt! 'Valtari' ist ja schon fast in die Gleichgültigkeit abgedriftet, mit 'Kveikur' sind sie wieder voll da. Gerade die ersten drei Songs, sowie der Titeltrack sind wunderschön und voller Energie. Zusammen mit Yo La Tengo's 'Fade' und der neuen Boards of Canada in der persönlichen Top 3 des Jahres bisher.
Seit "Untitled 8" ist mir bewusst geworden, dass Sigur-Rós nicht nur eine der besten Bands auf diesem Planeten sind, sondern auch definitiv die lauteste und härteste.
ich denke das sigur nun mit kveikur viele neue fans hat.
auch denke ich aber, dass so einige alte sich abwenden.
ich selbst bin noch genau dazwischen. mal sehn, nochmal hörn....
@zeitig (« ich denke das sigur nun mit kveikur viele neue fans hat.
auch denke ich aber, dass so einige alte sich abwenden.
ich selbst bin noch genau dazwischen. mal sehn, nochmal hörn.... »):
Hmm, ich denke gerade Sigur Rós haben viele von den Anhängern, die ihrer Lieblingsband Raum für Entwicklungen zugestehen.
Wobei, einige Fans schienen ja damals bei Takk... schon die Schnauze voll gehabt zu haben... "zu rockig, zu fröhlich, zu greifbar"(sic!)
Es gibt Bands, da bin ich wenig tolerant was stilistische Änderungen betrifft. Sigur Rós schaffen es bisher mit jedem Album neue Facetten um einen identitätsstiftenden Kern anzureichern, ohne zu sehr zu zerfasern.
Gestern mal wieder nach langer Zeit am Stück durchgehört. Meine Platte des Jahres 2013, XL Label #1. Natürlich in der 2LP + CD + Bonus 10" Fanboy-Edition.