laut.de-Kritik
Müll rausbringen, masturbieren: Ein ganz normaler Tag.
Review von Sven KabelitzSo unterschiedlich können Künstler sein: Während David Byrne nach der abgeschlossenen Tour zum gemeinsamen "Love This Giant"-Album die Urlaubskoffer packte, machte sich Annie Clark aka St. Vincent sofort an die Arbeit für ihr neues Album. Obwohl die beiden nun wieder getrennte Wege gehen, findet sich viel vom Esprit des Altmeisters im neuen Werk der Multiinstrumentalistin.
Aus dem ehemals possierlichen Hipster-Mädchen mit lockigem braunen Haar und Knopfaugen reift ein androgynes Wesen heran, das majestätisch von seinem Thron herab blickt. Mit Unterstützung von Produzent John Congleton, Midlake-Schlagzeuger McKenzie Smith und Dap-King Homer Steinweiss folgt sie den Spuren der Talking Heads, David Bowie und Annie Lennox'.
Dabei weicht Annie Clark mit ihrer rastlosen Energie immer wieder vom Weg ab, um ihre eigenen Erfahrungen zu sammeln. Voller Freude meuchelt sie mit jedem Mordinstrument, das ihr zur Verfügung steht, ihren an sich leicht entzifferbaren Gitarren-Pop. Sollte Lady Gaga irgendwann auf die Idee kommen, ihren nebensächlichen musikalischen Output auf das Niveau ihres Art-Images anzuheben, müsste sie klingen wie "St.Vincent".
"Oh what an ordinary day / Take out the garbage, masturbate", singt Clark zu einem aufsässig knarzenden Bass und brüchigen Gitarren-Riffs zur Eröffnung von "Birth In Reverse". Muss ja auch mal sein. Mit seinen Bläser-Fanfaren und einem ruckartigen Groove wächst in "Digital Witness" eine ganz eigene unterkühlte und sterile "Love This Giant"-Interpretation heran. Um zu seinem schwelgerischen Refrain zu gelangen, schlägt der Track mehr als einen Haken und überspringt manch einen haushohen Felsen. "What's the point of even sleeping / If I can't show it? / You can't see me / What's the point of doing anything?", greift sie die mittlerweile allgegenwärtige "Pics or it didn't happen"-Mentalität auf.
Über schrägen Funk-Einflüssen, verzerrtem Drumcomputer und nervösen Synth-Einsatz erzählt die liebenswert kauzige St. Vincent im Opener "Rattlesnake" mit ihrem jaulendem Gesang davon, wie sie einst so wie Gott sie schuf in der Wüste vor einer Klapperschlange wegrennen musste. In "Huey Newton" schwebt sie über unbekümmerte Keyboard-Linien und stolpernde Beats, bis nach der Hälfte eine bitterböse schmutzige Gitarre den Charakter des Stücks komplett auf den Januskopf stellt.
Leider schafft "St. Vincent" sein stolzes Profil nicht ganz bis über die Ziellinie. Gerade in der zweiten Hälfte lümmelt sich der ein oder andere Lückenfüller. Das elektronische Juckeln in "Bring Me Your Loves" lärmt ohne erkennbare Idee vor sich hin. Die funkelnde Ballade "I Prefer Your Love" hätte in dieser Form auf jedem Madonna-Album der frühen Neunziger einen Platz gefunden, ohne dort sonderlich aufzufallen. Doch jeden aufgekommenen Zweifel widerlegt das üppig arrangierte "Severed Crossed Fingers". Im aufgewühlten Rausch hängen die Himmel voller bittersüßer "Low"-Synthesizer. "The truth is ugly / Well I'm ugly too."
Trotz kleiner Ausrutscher perfektioniert Annie Clark auf "St.Vincent" ihr Alter Ego. Straff organisiert gelingt ihr als Musikerin, Songwriterin und Künstlerin ihr bisher ausgereifteste Werk. In der Finsternis der Disharmonie leuchten ihre zugänglichen Melodien nur um so deutlicher.
5 Kommentare
War ja sehr groß angekündigt, sehr pompös, musikalisch hat es mich bis jetzt nicht ganz überzeugt, aber ich wage noch einen Versuch...
Ist schon ne Gute. Hab ich aufm Plan.
Großartiges Album. Trotz kurzer Einhörzeit aller Lieder würde ich sagen, dass es bisher ihr bestes Werk ist.
Schlimme Friese.
@Trockenbrett: Nach genügend Einhörzeit würde ich zustimmen. Vielleicht nicht ihr komplexestes, aber die Hooklines sind einfach so gut platziert. Für mich wäre da eine 4,5/5 oder 5/5 angebracht gewesen. Im Moment mein Album des Jahres und in meiner Top 15 des laufenden Jahrzehnts.