laut.de-Kritik

Kann man auch Alben heiraten in Dänemark?

Review von

Wenn man sich mit einem Album in der Hand auf eine einsame Insel begeben möchte, um nichts anderes mehr wahrnehmen zu müssen als den Einfluss der Musik, stehen die Anzeichen gut, dass es sich bei besagtem Opus um etwas Außergewöhnliches handelt. Genau das ist auch bei "Grace or Drowning" der Fall.

Steven Wilson macht es seinen Hörern aber alles andere als leicht, sich den auf zwei CDs verteilten zwölf Songs zu nähern. Dabei bleibt er seinem künstlerischen Motto treu und schert sich recht wenig um die Erwartungen seiner Anhängerschar. Das hat ihm schon in der Vergangenheit bitterböse Kommentare eingetragen von Seiten derjenigen, die zu wissen meinten, wie ein Wilson- oder PT-Album gefälligst zu klingen hätte.

Auf diese Erwartungshaltung setzt Wilson - wieder einmal - einen großen Haufen. Er serviert uns einen Brocken, der sich allem möglichen annährt oder sich daran anlehnt, kaum aber dem, was der gemeine Fanboy sich von einem weiteren Solo-Werk erwartete. Dabei scheint die Weiterentwicklung des Herrn Wilson dennoch logisch, denn neben einer ordentlich angejazzten Schlagseite hagelt es einmal mehr Zitate seiner Heroen von King Crimson. Aus der Lizard-Ära bedient er sich diesmal. Schön verfrickelt, mit exotischen Instrumenten wie Saxophon oder Flöte versehen.

Daneben fährt Wilson einmal mehr einen musikalischen Film auf, in den man sich fallen lassen kann oder in dem man sich verliert. Bei letzterem sollte man sich vorsehen: Neben eingängigen Harmonien hat der Mann auch verstörend-beängstigende Atmo-Streifen am Laufen, die nicht unbedingt jedermanns Sache sein dürften.

Die bedrohliche Stimmung der "Raider Prelude" flirrt nur so vor Geisterstunden-Gänsehaut. Man darf fast froh sein, dass Wilson die Atmosphäre des Stücks nicht zur Gänze auswalzt, so dass alles schreiend davon rennt. So ganz daneben liegt man mit dem Gefühl letztendlich nicht: Die Audio-Blu Ray hält einiges in dieser Richtung parat.

Der prägendste Eindruck, den "Grace For Drowning" hinterlässt: Statt griffiger Songs bleiben eher Stimmungen im Kopf hängen. Beide CDs ergeben eine fulminante Berg- und Talfahrt durch Schönheit wie auch durch Psychosen, denen sich der Hörer ausliefern muss, um Gefallen an der Musik zu finden.

Die Klammer um diesen Irrwitz aus progressiven Tendenzen, bilden zwei Stücke, die den immanenten Wahnsinn des Doppelalbums bändigen: das zurückgelehnte und mit wunderschönen Gesangsharmonien versehene "Like Dust I Have Cleared From My Eyes" sowie der Titeltrack. Das Artwork spricht diesbezüglich Bände. Wilson wird seine Dämonen nicht los. Was aber wieder einmal zutage tritt, ist Wilsons Gespür für Harmonien und Melodien, die - in ruhigen Momenten - zu Tränen rühren und in rhythmisch ausgeprägterer Natur für Adrenalinschübe sorgen.

Noch eindrucksvoller wäre "Grace For Drowning" geraten, wenn Wilson nicht dem Artrock-Gedanken eines Doppelalbums verfallen wäre und sich statt dessen entschlossen hätte, seinen zweiten Solo-Output auf eine einzige CD zu pressen. Einen musikalischen Bruch hätte dies bei der vorhandenen Stilvielfalt ohnehin nicht bedeutet.

Dann muss man im Koffer für die einsame Insel eben ein klein wenig mehr Platz freischaufeln. Langweilig wird es mit den beiden Scheiben ohnehin nicht. Kann man auch Alben heiraten in Dänemark?

Trackliste

Deform To Form A Star

  1. 1. Grace For Drowning
  2. 2. Sectarian
  3. 3. Deform To Form A Star
  4. 4. No Part Of Me
  5. 5. Postcard
  6. 6. Raider Prelude
  7. 7. Remainder The Black Dog

Like Dust I Have Cleared From My Eye

  1. 1. Belle De Jour
  2. 2. Index
  3. 3. Track One
  4. 4. Raider II
  5. 5. Like Dust I Have Cleared From My Eye

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Steven Wilson

Das Jahr 1967 ist nicht nur die Geburtsstunde des Beatles-Jahrhundertalbums "St. Peppers Lonely Hearts Club Band" oder von Jimi Hendrix' Gitarren-Lehrstunde …

LAUT.DE-PORTRÄT Blackfield

"Klassische, melancholische Lieder mit einer sinnlichen und warmen Produktion", so definiert Steven Wilson in einem Interview das Wirkungsfeld von Blackfield.

LAUT.DE-PORTRÄT Porcupine Tree

Ähnlich bescheuert wie Fredl Fesels humoresker Ausflug in das tragische Leben des Stachelschweins beginnt auch die Geschichte der Band Porcupine Tree …

22 Kommentare

  • Vor 13 Jahren

    Auf jeden Fall vorgemerkt für Album 2011. Wem es nicht gefällt - o-k. man kann sich streiten, ob man sich hier drüber auslassen muss.
    Klar ist, dieses Album h a t Substanz und zwar reichlich.
    Man muss es wirklich mehrmals hören - wobei es schon beim ersten Mal gut ist, aber es wird in jedem Fall immer besser.
    Nun - ich sage auch allen Weinfreunden: Wenn ihr mit Chateau Margaux anfangt, bringt das rein gar nix.
    Wie auch immer, viel Musik fürs Geld!

  • Vor 13 Jahren

    Ich hab es mir gekauft und gleich wieder verschachert. Es hat großartige Momente, aber nach etlichen Durchläufen blieb nichts wirklich hängen. Irgendwo weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll.

  • Vor 12 Jahren

    Nun ist das zweite Solo Werk von Mr. Wilson schon wieder Vergangenheit und wie schon andere vorgemerkt haben, sollte man sich seine Werke mehrmals anhören! Er macht es seinen Hörern auch nicht einfach, selten bleibt ein Song hängen. Das Wow Gefühl kommt nicht mit einen Schlag, es wird einen Häppchen Weise serviert! Ich habe immer das Gefühl das er es als Blasphemie empfindet wenn man Vergleiche mit seinen andreren Projekten macht, nun der Mensch neigt dazu Vergleiche hinzu zu ziehen. Ja, er brauch nicht ein gegen Stück wie Pink Floyd , wo der Water sein Gilmour hat, das schafft er ganz alleine seine Fans in zwei Lager zu spalten! Und Grace For Drowning macht es da auch nicht einfacher!
    Lieber Alexander Cordas, deine Beschreibung mit der einsamen Insel, macht mir Angst, nicht böse sein. Was mir an diesen Werk fehlt, das Mr. Wilson einen es nicht einfach macht ihn auf seine Reise zu begleiten! Auch nach 6 Monaten kommt es mir vor, dass man sich nicht bewegt hat und der bedrückende Eindruck nicht weicht, was man auf einer einsamen Insel nicht braucht. Ja, kommt auch nicht gut wenn man es übersetzt: Gnade Für das Ertrinken! Aber Spaß bei Seite, vermischt man Grace For Drowning mit dem Vorgänger Insurgentes, wird man feststellen dass diese beiden Alben sich nicht viel unterscheiden! Was mich aber irrtet, das GFD die Elemente anders an geordnet sind. Was einen auf Insurgentes mit gerissen hat ist in den Hintergrund gesetzt worden. Was einen zu Innehalten zwingt und dem zu lauschen was man sonst nicht hört. Unterm Strich schafft Mr. Wilson es immer wieder einen zu faszinieren, ob Positiv oder Negativ. Grace For Drowning ist nicht sein bestes Werk, aber es zeigt auch eine Seite, dass seine Art von Musik nicht einseitig ist, die gesamte Palette von Einflüssen die er nutzt kommt hier in den Vordergrund! Wenn man dieses Album mit auf eine einsame Insel mit nimmt, sollte sich im Klaren seinen, dass man nicht wieder so nach Hause kommt wie man sich kannte!