laut.de-Kritik

Zeitdokument einer missverstandenen Popband.

Review von

Wenn weder Wikipedia noch dieses Magazin bei der Suche nach aktuellen Künstlerinfos helfen, wirds eng. Ein ähnliches Gefühl wie damals eigentlich, als es noch kein Internet gab und Talk Talk noch existierten. Zum Suchbegriff Mark Hollis ist jedenfalls kaum mehr rauszukriegen, als dass 1998 ein Soloalbum erschien und er kurze Zeit später bei Jan Garbareks Tochter Anja und UNKLE als Gastmusiker geführt wurde.

Sollte es Realität sein, dass der einstige Sänger von Talk Talk sich endgültig aus dem Musikzirkus verabschiedet hat, ist dies nicht nur ein erheblicher Verlust, sondern ein Grund mehr, vorliegendes Konzert zu goutieren.

1986 war die erfolgreichste Phase von Talk Talk eigentlich schon überschritten, das Album "The Colour Of Spring" und die Single "Living In Another World" konnten zumindest außerhalb Englands nicht an die Verkaufszahlen vom '84er Album "It's My Life" anknüpfen. Trotzdem spielte die Band 1986 ihre einzige Welttournee.

Die Momente, die das Konzert vom 11. Juli jenes Jahres über die Länge eines Fußballspiels festhält, bringen denn auch eine eingespielte Band zum Vorschein, die mit acht Musikern deutlich üppiger besetzt ist, als man es von einer Synthie Pop-Gruppe denken würde.

Wobei alleine die irreführende Genre-Zuweisung Synthie Pop dem großen Melancholiker Hollis schon kurz nach dem elektronischen Talk Talk-Debüt 1982 die Schamesröte ins Gesicht trieb, denn mit Wegbegleitern der Sorte Spandau Ballet oder The Human League wollte er nie auch nur im selben Satz genannt werden.

1984 ließ Hollis erstmals seine wehmütige Ader im Songwriting aufblitzen, bevor der dieser Tour zugrunde liegende Album-Nachfolger ein letztes Zugeständnis ans Popgeschäft darstellte. In dieser Hinsicht ist der Montreux-Auftritt besonders bemerkenswert: Die Band präsentiert durchaus experimentelle Liveversionen, für die extra zwei Percussionisten an Bord geholt wurden.

Im Vergleich zur posthum erschienenen CD "Live In London 86" lebt die um sechs Songs längere, vollständige Setlist aus Montreux vom unnachahmlich luftigen Bassspiels des späteren Beth Gibbons-Partners Paul Webb aka Rustin Man. Was dieser in "Life's What You Make It" oder "Give It Up" abliefert, nimmt den spartanischen Groove späterer Jazzrock-Exkurse auf "The Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" vorweg.

Irritierend mag man höchstens die streckenweise kritischen Rocksolo-Ausflüge des Gitarristen John Turnbull bewerten (ganz schlimm: "My Foolish Friend"), dessen 80er Jahre-typische Rockgitarristen-Matte samt weißem Unterhemd dem indifferenten optischen Erscheinungsbild der Gruppe die Krone aufsetzt. In Nebenrollen: Ein halbnackter Congaspieler, Keyboarder Rupert Black mit vom anstrengenden Tastenjob schweißgebadeter Hemdrückseite und natürlich Hollis selbst, der herrlich den Pop-Zeitgeist negierend in Sandalen auf die Bühne tritt.

Seinem Ruf als missverstandener und mystischer Sonderling wird seine Performance insofern gerecht, als dass er sich in Gesangspausen mal eben aufs Schlagzeugpodest setzt, dem Publikum außer seinem Songtext maximal ein "Thank you very much" zukommen lässt und er mit seiner runden Sonnenbrille mehr als einmal John Lennon in Erinnerung ruft.

"Bevor du zwei Noten spielst, lerne erst mal, eine zu spielen. Und spiele diese eine Note nur, wenn du auch einen Grund dafür hast", ist einer der schönsten von Hollis bekannten Sätze. Tragischerweise scheint er derzeit keine Gründe dafür vorzufinden.

Trackliste

  1. 1. Talk Talk
  2. 2. Dum Dum Girl
  3. 3. Call In The Night Boy
  4. 4. Tomorrow Started
  5. 5. My Foolish Friend
  6. 6. Life's What You Make It
  7. 7. Does Caroline Know
  8. 8. It's You
  9. 9. Living In Another World
  10. 10. Give It Up
  11. 11. It's My Life
  12. 12. I Don't Believe In You
  13. 13. Such A Shame
  14. 14. Renée

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Talk Talk

Zu den bemerkenswertesten Bands der 80er Jahre gehören ohne Zweifel Talk Talk. Vor allem aufgrund der kaum greifbaren Entwicklung vom Pop-Darling zum …

4 Kommentare

  • Vor 16 Jahren

    3 Punkte für Talk Talk? Blasphemie! Alleine für Mark Hollis Gesang und die Setliste muss man mindestens 4 Punkte geben. Naja für mich bleiben sie meine absolute Lieblingsband!

  • Vor 16 Jahren

    @doenertier (« 3 Punkte für Talk Talk? Blasphemie! Alleine für Mark Hollis Gesang und die Setliste muss man mindestens 4 Punkte geben. Naja für mich bleiben sie meine absolute Lieblingsband! »):

    stimme zu, die bewertung ist zu niedrig ausgefallen, und dem text nach wäre es auch mindest eine 4-er wertung, komisch.

    wird wohl irgendwann mal bei mir im einkaufkorb landen um meine DVD-Sammlung guter live-bands zu ergänzen

    sehr sehr schade, dass diese band bzw. Mark Hollis nichts mehr zustande gebracht haben, eine der kreativsten Bands der späten 80iger (aber selbst in ihrer frühen Pop-Phase waren sie genial)

    Ein Ausspruch Hollis' war auch damals schon, dass er Musik machen wollte die man auch in 20 Jahren noch hören könne ohne dass sie altbacken wirkt
    Recht hat er auf jeden Fall, sogar nach nun MEHR als 20 Jahren!

  • Vor 16 Jahren

    @Fear_Of_Music («
    sehr sehr schade, dass diese band bzw. Mark Hollis nichts mehr zustande gebracht haben »):

    So ja nicht ganz richtig:
    http://www.babyblaue-seiten.de/index.php?a…

    Tim

  • Vor 16 Jahren

    naja, nicht talk talk verdienen die drei punkte, sondern die dvd, die nunmal ein typischer mitschnitt auf 80er jahre-technikniveau ist. wenn es von der band viele andere live-dvds gäbe, hätten wir es gar nicht besprochen. ihre musik steht natürlich für sich!