laut.de-Kritik

Perfektionismus in rhythmisch reizvoller Cello-Kammermusik.

Review von

Tanita Tikaram hat mit "Twist In My Sobriety" ganz zu Anfang ihrer Karriere bereits ihr ewiges Markenzeichen geprägt. Die rauchige Stimme mit dem skeptischen Tonfall hat sich nie so recht einer damals gerade mal 19-Jährigen zuordnen lassen. Nun ist sie fast drei Mal so alt und legt die, wie sie es sieht, inhaltliche Fortsetzung ihres Debüts vor. Zwischen dem damaligen Album "Ancient Heart" und dem heutigen "L.I.A.R." ist zwar eine ganze Menge passiert, aber manches ist dann doch wieder wie damals: War anno 1988 Tanitas Kontrahent eher der bräsige Status Quo mitten im Thatcher-Großbritannien, sieht sich ihr Themenkreis Selbstbestimmung, (Gender-)Identität und Eintreten für LGBTQ+-Werte in unseren woken Zeiten einer reaktionären Throwback-Welle gegenüber.

Tikaram klingt mit ihrem polynesischen Vor- und Nachnamen zwar exotisch, wuchs aber in NRW und England auf. Der Albumtitel "LIAR (Love Isn't A Right)" kann einem sprachlich schnell den nächsten Streich spielen. Er meint nicht, dass an Liebe irgendetwas verkehrt sei, sondern dass sie sich nicht einklagen oder verordnen lasse. Das soll wohl kaum hohe Scheidungsraten verniedlichen. Die Rückkehrerin lädt zu einer anachronistischen Kammermusik ein, die aufs Heftigste versucht, die rasende Zeit, das dauerpulsierende Digitale und die verbreitete Banalität des heutigen Folkpop zu kontrastieren.

Tikaram, Relikt einer Zeit, in der Folk sich nach einer längeren Pause erst wieder und mitten im Synthie-Boom seinen Markt zurück erobern musste, kann nicht so ganz abstreifen, dass sie als die Grande Dame dieser Stilistik erscheint. Dadurch wohnt "LIAR (Love Isn't A Right)" an manchen Stellen der Perfektionismus eines erfahrenen Profis inne, abgekapselt von allem, was in den letzten 37 Jahren an Trends dazwischen funkte: Jeder Ton sitzt so unverrückbar wie bei einer Mega-Musical-Inszenierung.

Die Komponistin hat sich Zeit gelassen, das Werk reifen zu lassen. Es ist so durchdekliniert und justiert, dass man sich an manchen Stellen denkt: 'Komm, Tanita, riskiere mal etwas Unschärfe, gib den Hörer:innen bitte ein bisschen Luft, damit sich die Wirkung entfalten kann'. Denn das Werk hat Substanz, und die sollte man fühlen können. Auch würde man ihr so sehr einen neuerlichen Hit wünschen. Die Singles "Fear And Chills" und "This Perfect Friend" sind eigentlich so großartig, dass das nur fair wäre. Diese Wünsche erfüllen sich zwar nicht so recht. Doch ihr Handwerk hat die Sängerin drauf und veranstaltet mit ihrem Ensemble Chamber-Pop vom Feinsten. Sie stellt ein Cello in den Vordergrund (Zosia Jagodzinska), auch mal ein Akkordeon (Bartek Glowacki) und baut ein Choral-Dickicht auf, dessen Unpeinlichkeit fast schon ängstigt. Elemente von Klassik, also 'Ernster' Musik, in den Mantel des Populären einzuflechten, das beherrscht diese Singer/Songwriterin und ist in dieser Konsequenz neu bei ihr hinzugekommen.

Ungewohnte Sept- und Non-Akkord-Folgen weben eine unwirkliche, schummrige Stimmung in "Fear And Chills", einer eigentümlichen Komposition vom Komplexitätsgrad einer George Harrison-Ballade. Auf einen Touch Soul-Mellowness setzt die Singer/Songwriterin die Grandezza von Lou Reeds "Perfect Day" und ähnlichen artsy Hochkarätern. Hart wird das Piano angeschlagen, weich und wohlig wirken die Harmonien. Der Titelsong "Love Isn't A Right" erforscht voller ambivalentem Mittelalter-Charme, wie Liebe zum makabren Verfolger werden kann. Mit Gypsy-Pizzicato und heftigst gefiedeltem Stakkato-Galopp von Helen O'Hara - ehemals Dexys - gehört der Song zur lebhafteren Fraktion. Ihr wird auch der ausbalanciert eingängige wie schroffe Alternative Rock von "Lover Don't Come Around" zuteil.

Anderswo kann man sich mehr treiben lassen und in einlullenderem Sound versinken. "Turn The Lights Down Low" pulsiert perkussiv, schichtet Spannung in einer verschrobenen Instrumental-Phase auf. Zwei Stücke, die noch herausragen, sind "Sailboats" übers ziellose Gleiten in die Ferne hinaus mit hämmernden Drums von Marc Pell (Mount Kimbie) und die XL-Nummer "Sweet Feather And The Storm", ein Wunderwerk an Arrangement und Dramaturgie. In "Fais Moi La Solitude" wechselt Tanita zeilenweise ins Französische. Die andere Hälfte der Stücke ist unwesentlich schlechter, bleibt trotzdem unnahbarer. Es fehlen die Textstellen zum Anfassen, eine Story, die man sich bildlich vorstellen könnte und in den Vocales klar zum Vorschein käme.

Als Tanitas Zeitgenossin Heather Nova Anfang des Jahres eigentlich das vergleichsweise blassere Album vorlegte, war das sehr Cello-lastig. Tikaram ist das auch, aber sie fokussiert sich nicht wie Heather auf drei plakative Momente zum Mitsummen. Dabei war der Aufnahmeprozess ähnlich - man zog sich zu neunt in ein Studio nach Glasgow zurück. Tanita dagegen präsentiert insgesamt durch die Bank die stärkeren Melodien in allen Strophen, Bridges und Refrains und die kreativeren Umsetzungen. Was bleibt, ist somit ein handwerklich hochklassiger Longplayer mit funkelnden, glitzernden Edelsteinen als Tracks, aber irgendwie ohne diesen Effekt, die geneigte Hörerschaft mit aller Macht zum Album ziehen zu wollen. Dazu hat das Album wohl seinen Garpunkt überschritten. Es verdient in Schulnoten sicher irgendwie noch Note Eins, aber fordert dem Publikum Muße, Ruhe und Geduld ab.

Trackliste

  1. 1. Turn The Lights Down Low
  2. 2. Fais Moi La Solitude
  3. 3. This Perfect Friend
  4. 4. I See A Morning
  5. 5. Fear And Chills
  6. 6. Love Isn't A Right
  7. 7. Lover Don't Come Around
  8. 8. Sweet Feather And The Storm
  9. 9. Wild is The Wind
  10. 10. Sailboats

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1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor 25 Minuten

    Was vielleicht nicht so ganz klar ist: Die ersten Buchstaben der vier Wörter "Love Isn't A Right" ergeben zusammen LIAR (okay, das A ist auch schon der einzige Buchstabe vom Wort "A", haha). Und "LIAR" bedeutet auf Deutsch "Lügner", auch wenn es normalerweise klein geschrieben und nicht geschrien wird.

    Schon klug durchdacht, das Ganze! Chapeau!