laut.de-Kritik
Im Sommer 1968 endet die psychedelische Party mit diesem Album.
Review von Erich Renz1968 war das Jahr, in dem sich The Band der Schirmherrschaft Bob Dylans entzogen. Als Haus- und Hofkapelle unterstützten sie Dylan zu Beginn seiner elektrischen Phase zwischen 1965 und 1967. Aus diesem Zusammenspiel erwuchsen auch die 1975 erschienenen "The Basement Tapes". Als Bindeglied zwischen diesem Song-Sammelsurium und der ersten eigenmächtigen Veröffentlichung von The Band steht ein Haus im Dörfchen West Saugerties im US-Bundestaat New York, dem beide Alben Rechnung tragen: The Big Pink. In diesem Unterschlupf mit seiner pinken Außenfassade wurde den Kopfgeburten der The Band-Mitglieder tönendes Leben eingehaucht.
Gerade wegen seiner Country-, Folk- und Roots-Rock-Variationen brachen The Band mit "Music From Big Pink" eine Aufnahme vom Zaun, die nicht der Mode des damaligen Zeitgeistes unterworfen war. Die Psychedelia der Westküste stellte die Heimstatt von Körpererfahrung und Klangcollagen dar, die das individuelle Bewusstsein verschwimmen lassen sollte. Neben dieser eingetrübten Realität geriet das politische Tagesgeschäft ins Wanken. Die USA hatten ihren bis zu diesem Zeitpunkt größten Prediger, Martin Luther King, durch einen Terrorakt verloren und ließen eigensinnig den Horror im Stellvertreterkrieg in Vietnam walten.
Matthew Oshinsky vom Wall Street Journal ordnete den bekanntesten Album-Track "The Weight" (aus dem Soundtrack zum Kultstreifen "Easy Rider") so ein: "Es war tatsächlich an der Zeit, Ballast abzuwerfen ("take a load off") und die psychedelische Party hinter sich zu lassen. Revolution und Drogen und Krieg und Maßlosigkeit wogen schwer, zu schwer. Wie der Protagonist im Lied blickten The Band auf eine erschöpfte Szenerie."
The Band brachten im Sommer des Jahres 1968 mit klaren Akkorden und reinen Melodien das auf den Punkt, was jahrzehntelang durchs Land wehte. Keine 43 Minuten benötigt das Quintett, um "Music From Big Pink" wie ein sorgsam gepflegtes und sagenumwobenes Erbe nordamerikanischer Musikgeschichte erschallen zu lassen. Von der Wehklage "Tears Of Rage" bis zu den hochtonigen Harmonien von "I Shall Be Released" versprühen die aufgeteilten Gesänge von Richard Manuel, Levon Helm, Rick Danko und Robbie Robertson im Wechselspiel mit Orgel, Klavier, Clavinet, Saxophon, Fidel, Gitarren und Schlagwerk ein gleichzeitiges Gefühl von Nah und Fern.
"Music From Big Pink" ist klanggewordene Aura, die uns die frohe Kunde des Philosophen Walter Benjamin überbringt: Dass wir es hier mit einem Kunstwerk zu tun haben, dessen Anziehungskraft sich darin äußert, eine "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" herzustellen. Es ist ein Meilenstein, der herausragt aus den Schollen des großflächigen popmusikalischen Bodens, gerade weil er so erdverbunden ist.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare
Unglaubliche Platte! Sehr lesenswert dazu: Das Buch "Music from big pink" von John Niven aus der 33 1/3 Reihe. Aber besser in Englisch, in deutscher Übersetzung (erschienen bei Heyne Hardcore) nur der halbe Spass.
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Verdienter Meilenstein, wenngleich mir "The Band" immer etwas besser gefallen hat. Allein für "The Weight" lohnt sich das aber auf jeden Fall!
Kreativer Bandname.
Hab irgendwo noch den Konzertfilm "The Last Waltz" rumliegen. Sehr geil.
Unerwarteter aber definitiv verdienter Meilenstein.
"The Band" und "Northern Lights - Southern Cross" halte ich für ihre besten Alben, aber klar, "Big Pink" als Meilenstein geht natürlich auch in Ordnung und ist eh ein guter Einstieg, um sich mit dieser Jahrhundertgruppe zu beschäftigen.