laut.de-Kritik

Der ESC bleibt sich treu, doch schlimmer geht immer.

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Das Album "Eurovision Song Contest Turin 2022" erinnert an das Arbeitsleben eines Sachbearbeiters: Ein Mix aus wenigen Highlights, einigen Grausamkeiten und dazwischen ganz viel Mittelmaß. Dazu das übliche Bild der Künstler*innen: Sunnyboys, Conchitas, junge Singer/Songwriter, Schülerbands von heute und damals und ein paar Altbekannte, vielleicht sogar weltbekannte Gesichter. Das ist der ESC in a nutshell. 2022 bleibt das genauso. Und das trotz des hoffnungsvollen Mottos "The Sound of Beauty". Aber der Reihe nach.

Geht's nach den Buchmachern, hat das italienische Duo Blanco und Mahmood gute Chancen auf einen Heimsieg. Sie starten mit der Midtempo-Ballade "Brividi". Blancos Stimme kann zwar nicht ganz mit der von Mahmood mithalten, doch insgesamt harmonieren sie im Duett. Letzterer belegte übrigens 2019 in Tel Aviv den zweiten Platz. Auch die Schwedin Cornelia Jakobs steht mit ihrem modernen Popsong "Hold Me Closer" hoch im Kurs. Ihre rauchige Stimme sticht heraus und könnte ihr einen Platz in den Top fünf sichern.

Apropos Pop: Das Genre bestimmt gut ein Drittel der diesjährigen Songs und gehört genauso zum ESC wie ABBA, "Ein bisschen Frieden" von Nicole und generell schlechte Songs. Aserbaidschan, Australien, Estland, Großbritannien, Polen und die Schweiz setzen mit ihren Kandidaten auf die bewährte Formel Pop. Die Sänger dieser Länder wirken entweder wie The Voice-Sieger oder Möchtegern-Bieber und würden eine 1A-Boyband abgeben. Ihr meist melancholisch-baladiger Sound klingt halt vor allem nach altbekanntem Radiopop, weder schlecht, noch überragend. Zwar schenkt der estnische Sänger Stefan "Hope", das hindert aber nichts daran, dass seine Nummer melodisch an Mans Zelmerlöws-Siegertitel "Heroes" (2015) und die Chart-Hymne "Power Over Me" erinnert.

Die niederländische Sängerin S10 verarbeitet in ihrer Indie-Popnummer "De Diepte" (dt. "die Tiefe") ihre psychischen Probleme. Neben dem emotionalen Text bleibt der Track aufs Wesentliche beschränkt: S10s Stimme und eine zurückhaltende Instrumentalisierung. Allemal besser als Portugals dahinplätscherndes "Saudade Saudade". Armenien und Griechenland präsentieren soften Indie-Folk mit Gitarre, Malta und Kroatien mit "I Am What I Am" und "Guilty Pleasures" zwei potenzielle Radiohits. Chanels Latino-Popnummer könnte im richtigen "SloMo" erträglicher sein, und die junge Irin Brooke ahmt soundtechnisch Blondie nach, klingt aber dabei mehr wie Dua Lipa.

Dann doch lieber Rock. Die Italiener scheinen darin ihre neue Liebe gefunden zu haben. Zumindest tritt San Marinos exzentrischer Sänger Achille Lauro mit der (abgesehen vom Titel) radiotauglichen Rocknummer "Stripper" an, die gesanglich und stilistisch an die letztjährigen Gewinner Måneskin erinnert. Auch die Finnen gehen mit einer ihrer bekanntesten Bands und einer rockigen Nummer an den Start. The Rasmus wurden 2004 durch ihren Nummer-Eins-Radiohit "In The Shadows" europaweit bekannt und treten nun mit dem ähnlich eingängigem "Jezebel" an. Der Rocksong peitscht gut nach vorne und liefert Linkin Park-Vibes. Prominente, Vertretung kommt aus Bulgarien mit dem Intelligent Music Project. Frontsänger hier: Ronnie Romero von Rainbow und diversen anderen Projekten. "Intention", eine Hard-Rock-Nummer für die Masse, könnte wie die anderen beiden im Mittelfeld landen.

"Rockstars" von Deutschland-Vertreter Malik Harris trägt zwar den Rock im Titel, hat aber nicht viel mit dem Genre gemeinsam. Hier trifft klassischer Pop auf etwas Rap. Der Track im Midtempo baut sich langsam auf und hört sich nach einer soliden Radionummer an. Kein Wunder also, dass Malik Harris jetzt schon der neue Liebling deutscher Radiostationen ist. Singen kann der 24-Jährige ohne Frage, doch der mittlere Rappart steht ihm besser. Gerade mit dem könnte er bei Fans und Jury punkten.

Er hätte definitiv meine Punkte: Belgiens Youngster Jérémie Makiese. Seine moderne, frische Stimme erinnert etwas an den jungen Justin Timberlake. Er kann die Töne gefühlt endlos halten und brilliert vor allem in den Höhen. Sein Song "Miss You" klingt zwar textlich etwas öde, doch dafür mit dem Streicherquartett zu Beginn melodisch aufregend. Gleiches gilt für "Circles" von Andrea. Die Nordmazedonierin erinnert stimmlich an Leona Lewis und tritt für ihr Land mit einer lässigen R'n'B-Nummer an. Ab und an schlenkert sie etwas viel, ansonsten schöne Stimme, schöne Nummer.

Moldaus "Trenuleţul" mit landestypischer, rockig angehauchter Folklore könnte von einer schlechten Coverband sein, stammt jedoch von den Wiederholungstätern Zdob și Zdub, die schon 2005 in Kiew und 2011 in Düsseldorf am Start waren. Diesmal haben sie freundliche Unterstützung von Fraţii Advahov. Auch wenn "Trenuleţul" zugegebenermaßen recht gut Stimmung macht, klingt der Song halt einfach sehr, sehr nervig. Vor allem die Zeile "Hey ho, let's go! Folklore and Rock'n'roll" macht eher aggro als froh. Bei Zuschauer*innen könnte die Nummer gut ankommen, bei der Jury eher weniger.

Gleiches gilt für Lettland und Citi Zeni: Die Stimme des Leadsängers, der Sound und diese pseudo-Boyband-Attitüde, einfach alles uncool. Doch das Schlimmste sind die Lyrics zu "Eat Your Salad": "Instead of meat, I eat veggies and pussy / I like them both fresh, like them both juicy / I ride my bicycle to work instead of a car / All of my groceries are divided by weight / And stored in glass jars (yeah)". Ironie hin oder her, bei dem Song würde ich lieber wieder zum Schnitzel greifen, als der Aufforderung der Letten zu folgen. Die Top Drei der Grausamkeiten endet mit "The Show". Wobei die Show von Reddi aus Dänemark gesanglich echt kein Genuss für die Ohren ist. Der Song der Girlgroup startet balladig (ohne zu berühren), dann kommt der Twist und es wird rockig (ohne zu rocken).

Besser machen es Norwegen und Georgien, die in diesem Jahr bereits im Vorfeld mit ihren Nummern viral gingen. Bei Norwegen liegt das an den gelben Wolfsmasken des Duos Subwoolfer und ihrem Track "Give That Wolf A Banana". Der Titel und vor allem die Line: "Let's go to grandma's, you say grandma tastes the best" mag zwar etwas abschreckend sein, doch die Elektronummer bietet mehr als nur TikTok-Potenzial. Den Phantomwölfen gelingt im Vergleich zu Dänemark auch der Twist von einem ruhigen Gitarreneinstieg zur Uptempo-Dancenummer. Einen ähnlich tanzbaren Sound liefern Circus Mircus aus Georgien. Das Künstler-Kollektiv versteckt sich unter Brillen und Hüte statt unter Wolfsmasken. Zu ihrem Wirken sagen sie lediglich: "Der Grundstein unserer Philosophie ist die komplette Vernachlässigung musikalischer Genres". Der Synthie-Electro-Mix "Lock Me In" klingt zumindest melodisch aufregend.

Noch mehr Dance und Electro bieten Österreich, die Tschechische Republik, Israel, Frankreich und Rumänien. Sie alle beweisen, wie vielfältig sich ihr Genre anhört. Österreich setzt auf seine Youngster. Das sind der weltbekannte Produzent LUM!X und die Newcomerin Eva Maria, gerade Mal 19 und 18 Jahre jung. Ihr Song "Halo" überzeugt mit einem schnellen Beat und einem sehr lässigen Klatschpart. Die Tschechische Republik hingegen setzt auf das Trio We Are Domi und ihren modernen Sound mit Dance-, Electro- und Scandi-Einflüssen. Alvan und Ahez aus Frankreich experimentieren mit Elektro und Folk in bretonischer Sprache, Israels Michael Ben David mit nachöstlichen Klangen. Zuletzt der englisch-spanische Dancesong "Llámame" aus Rumänien. Das heißt übersetzt "Ruf mich an", wird aber vermutlich nicht funktionieren.

Folklore, Rap, Jazz und Chanson sind hier die Ausnahme. Die slowenische Schülerband LPS macht souligen Jazz, wobei die Melodie ihres Songs "Disko" etwas von eintöniger Fahrstuhlmusik hat. Monika Liu setzt für Litauen auf Chanson und erinnert an die Zweitplatzierte Barbara Pravi aus dem vergangenen Jahr. Entspannte Folkmusik kommt aus Island von drei Schwestern, die das Trio Systur bilden. Könnte Balsam für die Seele sein, wäre da nicht dieser unterschwellige Kelly Family-Vibe.

Ähnlich speziell wie die Kellys hört sich übrigens auch serbisch-lateinischer Gesang mit Synthies an. Den steuert Konstrakta mit "In Corpore Sano" bei. Montenegros Vladana erinnert mit ihrer düsteren depri Pop-Rock-Nummer im mittelalterlichen Stil an Evanescence, nur uncooler. Die Songs aus Zypern und Albanien haben abgesehen von ihren Gemeinsamkeiten, sprich einem rhythmusorientierten, eingängigen Beat und südöstlichen Klängen, nichts Besonderes zu bieten.

Schließlich kommt Song Nummer 40 aus der Ukraine. Die Lage dort ist weiterhin dramatisch. Dennoch nimmt die Ukraine am diesjährigen ESC teil und geht mit dem Kalush Orchestra an den Start. Die waren gar nicht die erste Wahl, denn eigentlich sollte Sängerin Pash antreten. Weil die im falschen Augenblick auf die Halbinsel Krim gereits war, rückte das zweitplatzierte Orchestra nach. Der Song "Stefania" bietet einen wilden Mix aus Rap und ukrainischer Volksmusik. Braucht die Welt den Song? Nicht wirklich. Liefert dieser den erhofften "Soung of Beauty"? Auch nicht. Doch geht es nach den Buchmachern, scheint dem Kalush Orchestra mit "Stefania" der Sieg sicher.

Trackliste

  1. 1. Ronela Hajati - Sekret (Albanien)
  2. 2. Rosa Linn - Snap (Armenien)
  3. 3. LUM!X & Pia Maria - Halo (Österreich)
  4. 4. Sheldon Riley - Not The Same (Australien)
  5. 5. Nadir Rustamli - Fade To Black (Aserbaidschan)
  6. 6. Jérémie Makiese - Miss You (Belgien)
  7. 7. Intelligent Music Project - Intention (Bulgarien)
  8. 8. Marius Bear - Boys Do Cry (Schweiz)
  9. 9. Andromache - Ela (Zypern)
  10. 10. We Are Domi - Lights Off (Tschechische Republik)
  11. 11. Malik Harris - Rockstars (Deutschland)
  12. 12. Reddi - The Show (Dänemark)
  13. 13. Stefan - Hope (Estland)
  14. 14. Chanel - SloMo (Spanien)
  15. 15. The Rasmus - Jezebel (Finnland)
  16. 16. Alvan & Ahez - Fulenn (Frankreich)
  17. 17. Sam Ryder - Space Man (Großbritannien)
  18. 18. Circus Mircus - Lock Me In (Georgien)
  19. 19. Amanda Georgiadi Tenfjord - Die Together (Griechenland)
  20. 20. Mia Dimšić - Guilty Pleasure (Kroatien)
  21. 21. Brooke - That's Rich (Irland)
  22. 22. Michael Ben David - I.M (Israel)
  23. 23. Systur - Með hækkandi sól (Island)
  24. 24. Mahmood & BLANCO - Brividi (Italien)
  25. 25. Monika Liu - Sentimentai (Litauen)
  26. 26. Citi Zēni - Eat Your Salad (Lettland)
  27. 27. Zdob și Zdub & Fraţii Advahov - Trenuleţul (Moldau)
  28. 28. Vladana - Breathe (Montenegro)
  29. 29. Andrea - Circles (Nordmazedonien)
  30. 30. Emma Muscat - I Am What I Am (Malta)
  31. 31. S10 - De Diepte (Niederlande)
  32. 32. Subwoolfer - Give That Wolf A Banana (Norwegen)
  33. 33. Ochman - River (Polen)
  34. 34. MARO - Saudade, Saudade (Portugal)
  35. 35. WRS - Llámame (Rumänien)
  36. 36. Konstrakta - In Corpore Sano (Serbien)
  37. 37. Cornelia Jakobs - Hold Me Closer (Schweden)
  38. 38. LPS - Disko (Slowenien)
  39. 39. Achille Lauro - Stripper (San Marino)
  40. 40. Kalush Orchestra - Stefania (Ukraine)

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