laut.de-Kritik
Da bleibt einem glatt der Schaum vor'm Mund weg.
Review von Kay SchierDie Sprache hat ihre Grenzen, im Gegensatz zur Musik. Die ist nach oben wie nach unten offen, und das jeweils sehr, sehr weit. Was die Musik von Vincent Gross mit einem macht, ist schlicht nicht mehr sagbar. Es verbietet sich fast, dieses Album durch eine unzulängliche sprachliche Annäherung in seiner totalen hirnzerstörenden Wirkung zu trivialisieren. Aber der Musikjournalismus ist ein schmutziges Geschäft.
Ein Teil in mir meint zunächst nach Ansicht seiner Musikvideos, wie er da vergnügte Purzelbäume auf seinem Hotelbett macht und an der Nordsee fidel im Sprung die Hacken zusammenschlägt, dass Vincent Gross einfach nur trollt. Eine sehr verspätete eidgenössische Antwort auf Alexander Marcus vielleicht, oder ein Dagobert in etwas dümmer. Alles wird wohl nur ein missglückter Scherz sein, wenn auch nur knapp über dem Niveau von ApoRed und seinem Anschlags-"Prank". Vergisst man aber für zehn Sekunden, die Musik zu den Bildern auszublenden, revidiert man dieses Bild eines sehr einfachen, aber im Grunde herzensguten Menschen, der einfach nur genau so wenig Lust auf ehrliche Arbeit hat wie alle anderen auch.
Irgendwann sackt dann die Erkenntnis, dass "Möwengold" wohl ernst gemeint ist. Diese pure Begeisterung von Vincent Gross an der Sache, sein lobotomisiertes Strahlen von Ohr zu Ohr: Das ist zu hundert Prozent authentisch. Da bleibt einem glatt der Schaum vor dem Mund weg. Übrig ist nur noch Fassungslosigkeit. Kein "Phantomschmerz", sondern ein sehr konkretes körperliches Unwohlsein. Man will es nicht einmal mehr Machwerk nennen. Die härtesten akustischen Foltern, die die Menschheit kennt, Verbrechen wie "Cotton Eye Joe" oder "Despacito", sind wie ein fiebriger musikalischer Rausch gegen einen Song wie "Dieser Beat".
Man ist hilflos und greift zum Pressetext: "'Möwengold' heißt das zweite Album von Vincent Gross, das sich musikalisch nahtlos an sein Debüt anschließt und mit der gelungenen Mischung aus Pop, Dance und Schlager die Zukunft des modernen Schlagers mustergültig repräsentiert." Gemeint sein kann hier nur: Pop im Sinne von Mark Forster in Uptempo mit schlechteren Lyrics, Dance im Sinne von James Last und Schlager der Helene-Fischer-Schule, nur billiger produziert.
Aber steckt in "Möwengold" nicht auch irgendwo ein radikaler künstlerischer Entwurf, mindestens zumindest ein Meilenstein des Marketings? Irgend ein Kreativer bei Ariola, beflügelt vom weißen Schnee der Alpen, hat den arglosen Vincent an den Schultern gepackt und ihn kräftig geschüttelt: "Ich mach dich zum Star, Junge! Aber den DJ Ötzi, den gibt's halt schon, wir machen das ganz anders, wir machen das Nordsee-Style! Wir kommen von den Bergen nach unten, wie Vogelscheiße runterkommt vom Himmel, von oben nach unten! Mööööööööwengooold!"
Und schon war der Titelsong geboren: "Möwengold / alles Gute kommt von oben." Das soll wohl witzig sein, mit einem frechen Augenzwinkern. Für Leute, die Bully Herbig als die Speerspitze des deutschen Humors begreifen und immer noch den "Space Taxi"-Song aus "Traumschiff Surprise" pumpen. Da grätscht dann auch schon mal eine völlig hängengeblieben verzerrte Hardrockgitarre ins Bild wie bei "Du Hast Schluss Gemacht", um die Absurdität auf die Spitze zu treiben.
Den Vincent muss der glasige Blick des Ariola-Kreativen irgendwie überzeugt haben. Trotz allem ist der Vincent nämlich wahrscheinlich ein ganz Lieber. Der macht eben nichts lieber, als auf der Bühne herumhopsen und zu unsäglichsten Malle-Beats vor sich hin jodeln. Findet der gar nicht schlimm, schließlich macht ihm das Spaß. Das kann doch so verkehrt nicht sein. Und den Mädels macht das auch Spaß, nicht wahr? Zumindest in der anvisierten Altersgruppe von Zehn bis Zwölf und von 60 bis Ende offen.
Ich will gar nicht wissen, was es mit einem Gehirn in der Entwicklung macht, wenn es länger dieser Beschallung ausgesetzt wird. Dagegen ist Jason Derulo Beethoven. Ich schwöre es bei den Selbigen, bevor ich mir dieses Album noch einmal freiwillig anhöre, tackere ich mir die Eier an meinen Bürostuhl, lasse mich kräftig anschubsen und pfeife lustig kreiselnd den DJ-Hugel-Remix von "Bella Ciao". Wenn ich auch schon oft wanderte durchs finstere Tal: Möwengold ist der Gipfel. Nur verkehrt herum.
22 Kommentare mit 19 Antworten
Reviews die Zielgruppen als Qualitätsmerkmal anführen..... Mmmkay!
Is ja unerhört dass der junge spaß dran hat am dem was er macht!
Hab ja auf n unterhaltsamen veriss gehofft, aber naja... Dafür 5 von 5, hab des Album ebenfalls net gehört!
Das hast du falsch verstanden, oder ich habe mich undeutlich ausgedrückt, oder beides. Die Zielgruppe wird hier nicht bewertet. Dass er da sich so hart reinhängt finde ich in der Tat krass, in jeder Hinsicht, also nicht unbedingt ausschließlich negativ. Mir abzusprechen, diesen Wust angehört zu haben, trifft mich dann aber schon. Das waren dunkle Stunden.
Hmmm..... Nun ja, wertungsfrei kommt des zwar imho net rüber, aber ok!
Aber.... Ich musste jetzt erstmal googeln was ein/eine "wust" ist/sein soll und bin auf ner Seite für schweizerische Steuersätze gelandet??
Warum net gleich so.... "ein Album dass einen zur Erledigung der Steuererklärung verleitet"! Review fertig, bam, bitte sehr!
Und, (hach, sind ma mal kleinlich,ma ham ja Zeit )..... Sprache hat Ihre Grenzen? Wäre dass dann nicht einfach schweigen??
Für tiefere Exkurse in die Sprachphilosophie an dieser Stelle fehlt mir leider der geistige Horizont. Aber auf jeden Fall mad props dafür, wie du hier für den jungen Vincent in die Bresche springst. Einer muss es ja machen!
Sprache ist formalisierte Abgrenzung. Nur dadurch, dass ich den Apfel vom Baum und das "Ich" vom "Du" abgrenzen und voneinander unterscheiden kann, funktioniert Sprache überhaupt. Nun behaupten manche mehr oder weniger erleuchtete Köpfe, dass Poesie sowohl Poesie als auch insbesondere Musik, den Versuch darstellt oder zumindest die Qualität hat, diese Grenzen aufzulösen und das "Unsagbare" zu sagen, die üblichen Grenzeinteilungen, die sich unser sprachgesteuerter Verstand stets setzt, aufzubrechen und in den Bereich des puren Fühlens oder puren Seins vorzudringen, welches keinerlei arbiträren Grenzen kennt.
Dies war ein Auszug aus "Aphorismen, Anekdoten und Allerlei - Die Worte des Gleep Glorp"
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Nun behaupten manche mehr oder weniger erleuchtete Köpfe, dass Poesie sowohl Poesie als auch insbesondere Musik, den Versuch darstellt oder zumindest die Qualität hat, diese Grenzen aufzulösen und das "Unsagbare" zu sagen, die üblichen Grenzeinteilungen, die sich unser sprachgesteuerter Verstand stets setzt, aufzubrechen und in den Bereich des puren Fühlens oder puren Seins vorzudringen, welches keinerlei arbiträren Grenzen kennt."...
Huh?.....
Du hast mich schon verstanden
Sind ma jetzt bei der extrameile?
Jetzt mäßigt euch mal. Der Wuppertaler Germanistikdozent ist auf dieser Seite bereits erschöpfend diskutiert worden.
Immer noch besser als Wincent Weiss, schätze ich mal.
Vincent/wincent empfiehlt sich für Kevin 2.0
hab mich getraut reinzuhören und bin zwiegespalten. der wincent mit w hat auf jeden fall das größere Aggressionspotential, weil man nicht mal drüber lachen kann. der vincent hier hat so gesehen mehr unterhaltungswert, musikalisch gewinnt er aber den limbo
kann mich aber nicht entscheiden, wem ich lieber eine reinzimmern möchte. wohl eher w, weil der es ins Radio geschafft hat, womit ich ihm nicht immer ausweichen kann.
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
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6/5
Akustische Folter würde dem Ganzen nicht mehr gerecht werden. Das ist schon mindestens vertonter 30-jähriger Krieg.
Respekt, wer dieses Album komplett hören kann... das ist ein super Wetteinsatz für "Freunde"
Was nimmt der wohl, um diese Authentizität zu ertragen?
@fm014:
Na ja, was nimmt die Authentizität, um ihn zu ertragen?
Gruß
Skywise