laut.de-Kritik

Keine Lyrics. Drehbücher.

Review von

"Liebe Reisende", adressierte Aesop Rock vergangene Woche völlig aus dem Nichts eine Botschaft an seine Fangemeinde. "Hier draußen herrscht Chaos." Beim Blick in die USA erscheint einem das wie die einzig treffende Beschreibung. "Ich habe gehört, anderswo ist es genauso." Auch das stimmt leider. "Ich hoffe, dass sich die Lage bei euch bald bessert. Bis dahin: Passt aufeinander auf." Den Soundtrack zu diesem frommen Wunsch liefert der Rapper direkt mit.

Was er deminuierend "Experimente" nennt, "ein paar Tools ausprobieren", das Resultat ausgiebigen Stubenhockens, Knöpfchendrückens und Reglerschiebens, entpuppt sich als vollwertiges Album, zwölf Tracks stark, und im völligen Gegensatz zu dem Gemischtwarenladen vom letzten Mal klingt dieses Release aus heiterem Himmel beeindruckend aus einem Guss. Noch nicht einmal ein halbes Jahr nach "Black Hole Superette" war damit wirklich nicht zu rechnen.

Produziert hat Aesop Rock "I Heard It's A Mess There Too" komplett alleine. "Was den Klang betrifft, wollte ich einen Neustart: cleanere Beats, mehr Raum, weniger Schichten. Gerade genug, um eine Welle loszutreten, nicht mehr." Das ist ihm gelungen. Die Instrumentals gehorchen sämtlich dem Weniger-ist-mehr-Prinzip und basieren allesamt auf demselben Bauplan. Oben: ein Sample oder ein spaciger Soundeffekt, immer ein bisschen schräg, leicht leiernd, minimal neben der Spur, spooky. Unten, für die Erdung: wuchtige Drums und rollende Bässe. Dazwischen: nix.

Nix außer reichlich Platz für Aesop Rocks absolut uniquen Flow. Der klingt zwar auch immer gleich, und das mittlerweile bereits seit Dekaden. Dass es trotzdem kein Stück langweilig wird, liegt seit jeher an den Lyrics. Ehrlich: Wenn mich irgendwann jemand zwingen sollte, einen einzigen Act auszusuchen, dem ich für den Rest meines Lebens zuhören müsste, ich bräuchte keine Sekunde Bedenkzeit. Jedes einzelne Aesop Rock-Album liefert genug Material, um sich eine halbe Ewigkeit das Hirn darüber zu zermartern. Immer vorausgesetzt, man ist unbelehrbar genug, sich nach all den Jahren noch immer verzweifelt an die Illusion zu klammern, man müsse doch irgendwann verstehen, wovon zur Hölle dieser Mann da eigentlich redet. (Check.)

"I Heard It's A Mess There Too" führt wieder einmal vor Augen, welchen Ausnahmestatus "The Impossible Kid" in Aesop Rocks Diskografie innehat: Tatsächlich hatte ich damals zum ersten (und bis jetzt einzigen) Mal das Gefühl, halbwegs zu kapieren, worum es geht. Auf diesem Album: erneut keine Spur davon, sorry. So kryptisch, verschleiert und vage die Inhalte aber bleiben, so plastisch vermitteln die Tracks Stimmung und Gefühl. Die Atmosphäre lässt sich schier mit Händen greifen.

Gleich der erste Track stößt eine*n unvemittelt direkt hinein in ein dystopisches Szenario. Es fühlt sich an wie eine dieser Black Stories: Du bekommst eine Situation skizziert, "blood in my hair, shit on my shoes, spit on my shirt, ash in the air, ick on the nose, system alert" - was mag passiert sein? Na, viel Glück beim Zusammenreimen. Hilfestellung kriegt hier niemand, immerhin in "The Cut" aber eine ziemlich exakte Beschreibung, wie sich das Haschen nach Interpretationsmöglichkeiten anfühlt: "It's like throwing a book at a ghost. You could damage the book plus they just poof into smoke."

Eigentlich sind es gar keine Songtexte, die Aesop Rock da vorträgt. Es sind Drehbücher. Die Filme dazu gehören zur Sorte "Mulholland Drive": Man schaut sie zum ersten Mal bekifft, rafft nichts, schiebt es auf das Gras, schaut sie erneut, diesmal nüchtern, und rafft ... genau nichts. Aesop Rock ist der Meister dieses großen Hä?-Gefühls. Er zitiert Klassiker und Kinderbücher, unter seiner Regie tanzen Dickens und Kafka Ringelreihen mit Tom Clancy, Tom und Jerry, den Muppets und den Loony Toons. Brückentrolle und sprechende Türklopfer bevölkern sein abgedrehtes Wunderland, außerdem natürlich auch diesmal wieder jede Menge Viechzeug, von der befreiten Hühnerschar über zusammengerollte Gürteltiere zu Laboraffen, und Mieze Kirby, die wir auf "The Impossible Kid" kennengelernt haben, scheint es auch noch gut zu gehen, juhu.

"Lately I been watching mostly horror flicks", erklärt Aesop Rock in "Bag Lunch". Ach, was!? Er hätte es eigentlich nicht extra dazusagen müssen, seine Beats sprechen diesbezüglich für sich. Klang "Crystals And Herbs" noch nach Katastrophenfilm, katapultiert "The Cut" in einen akustischen Dschungel im "Predator"-Style. Dabei reichen eine Handvoll Elemente, um das Gefühl latenter Bedrohung zu erzeugen: Es raschelt, knackst, klimpert, man rechnet jederzeit damit, dass irgendjemand, irgendetwas durchs Gebüsch bricht.

Die grellen Sounds in "Full House Pinball" passen wiederum perfekt zum angesprochenen 60er-Jahre-Flipperautomaten, während sich "Pay The Man" mit seinem Glöckchengeklingele anhört, als habe man sich in eine Spieluhr verirrt, in der es spukt. Durch "Potato Leek Soup" klimpert ein Barpiano mit schon ordentlich Schlagseite. "Bag Lunch" offenbart Anflüge von Dub-Reggae, "Call Home" enthält sogar Spuren von Country, Obacht. "I don't know", bringt das Sprachsample in "Poly Cotton Blend" das Grundgefühl auf den Punkt und hört sich dabei an wie eine satanische Rückwärtsbotschaft.

Wie eigentlich schon immer streut Aesop Rock großzügig Querverweise und Zitate aus Filmen, TV-Serien, Comics und Videospielen ein. Das Spektrum der Nerdiness reicht vom Video-Rollenspiel-Blockbuster "Baldur's Gate" über den verschrobenen Jim Henson-Klassiker "The Dark Crystal" bis zu Mainstream-Unterhaltung wie "The Brady Bunch". Zwischen all diesen Eskapismus-Formaten bricht aber immer wieder die Realität durch. Die wiederum erscheint momentan ja schauriger als das Maschinen-Herrschafts-Szenario aus "Terminator": "Kamikaze over common sense", fürwahr. "The Norman Rockwell that went Orwellian in seconds": der Zustand der U.S. of A., auf eine Line heruntergebrochen.

Durch diese "Mess" galoppiert Aesop Rocks lyrisches Altere Ego als fünfter apokalyptischer Reiter gen Ursa Minor, nicht aber, ohne uns immerhin gute Wünsche zurückzulassen: "Friends, I hope you find what you need to find so you can be the people you're supposed to", heißt es in "Call Home", an anderer Stelle: "Bring ninja cloths." Ob die allerdings viel nützen? Irgendwann bestimmt, heute jedoch nicht: "You could be the hero of the whole thing. You could be the watcher in the wait. You could be the likes of which we ain't seen. Just not today. No, not today."

Trackliste

  1. 1. Crystals And Herbs
  2. 2. The Cut
  3. 3. Fun House Pinball
  4. 4. Bag Lunch
  5. 5. Spin To Win
  6. 6. Opossum
  7. 7. Oh My Stars
  8. 8. Potato Leek Soup
  9. 9. Pay The Man
  10. 10. Poly Cotton Blend
  11. 11. Call Home
  12. 12. Sherbert

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