laut.de-Kritik

Lockdown in drei Akten.

Review von

Surprise, Surprise: Das Jahr 2020 hat mehr in petto als AHA-Regeln und Kneipen-Schließungen. Völlig unerwartet und unangekündigt kommen AnnenMayKantereit mit dem Album "12" ums Eck. Einer Platte, die in den Corona-gebeutelten Monaten entstand und von der aktuellen Stimmungslage geprägt ist.

Auch bei Severin, Henning und Christopher drücken Lockdown und Co. ganz schön aufs Gemüt. Nach den zwei erfolgreichen Alben "Alles nix Konkretes" und "Schlagschatten" stand die große Tour an, die dieses Jahr erstmals nach Moskau führen sollte – plötzlich abgesagt. Und das, nachdem es seit der Bandgründung 2011 schon fast erfolgsverwöhnt stetig bergauf ging.

Aber: Es geht weiter, wenn auch sehr düster. Und da sind wir auch schon am Punkt. So düster wie die Lieder zu Beginn auch sein mögen, so schaut es derzeit eben in der Künstlerszene und deren Köpfen aus. Ein Henning Gute-Laune-Bär wäre auch einfach unangebracht. So startet das "Intro" zwar mit den für die Gruppe typischen Klavierklängen, aber noch dunkler als gewohnt, was die Grundstimmung vorgibt. Gefolgt von "So wie es war", und den Worten "so wird es nie wieder sein", die sich während der Gesamtlänge von 47 Sekunden eindringlich und unterstützt von Frauenstimmen wiederholen, verstärken den Tenor zusätzlich.

Die darauffolgenden Tracks verweisen auf eine Zeitabfolge: "Gegenwart", "Vergangenheit" und "Zukunft", dazwischen "Gegenwartsbewältigung" und gefolgt von "Spätsommerregen". Gegenwärtig schließen die Kneipen, rennen die Nachrichten dem Algorithmus hinterher und wenn in Moria die Zelte brennen, sieht es keiner. Gelder und Tränen fließen. Die Tage werden länger, das Zimmer wird enger, dabei hat Corona erst angefangen. In "Zukunft" würde man in diese gerne schauen können, doch zu sehen ist nur die Vergangenheit. Plötzlich sind zehn Jahre vorbei und heute wird irgendwann die "Vergangenheit" sein, kaum, dass man hinterherkommt. So überschlagen sich auch Hennings Wörter.

Der "Spätsommer" findet allein beim Spaziergang im Innenhof statt oder mit Freunden in Chatverläufen. Aber: Es ist okay. Es kommt also der Zeitpunkt, sowohl im Album als auch dieses Jahr, an dem wir uns mit der Situation abfinden müssen. Die Erinnerungen vom letzten Spätsommer schleichen sich aber doch ein und so passen sich Gitarren-Sound und Schlagzeug-Rhythmus der hebenden Stimmungslage an. So auch "Warte auf mich (Padaschdi)" – russisch für "Warte", wo man die Möwen bereits kreisen sieht. Doch kann man den Augen noch trauen?

"Paloma" ist ein deutsch-spanischer Mix, der auch bei den der spanischen Sprache nicht mächtigen Hörern und Hörerinnen Gänsehaut hervorrufen dürfte. Der Refrain als dramatischer Höhepunkt: "Cuervo y una paloma", "Krähe und eine Taube". In "Ganz egal" kommt schon fast Aufbruchsstimmung auf. "Aufgeregt" erzählt von Martin, Klara und Andi, die wahrscheinlich schon in jedem von uns steckten, wenn man nach 70 Tagen endlich wieder in das soziale Leben entlassen wird. Und wenn es nur das Spazierengehen mit Mama ist.

"Und alle sind auf dem Weg / Und so glücklich aufgeregt". "So laut so leer" ist gefüllt mit wieder nachdenklicheren Passagen. "Wenn ich wüsste, was ich tun kann": Phrasen, Versprechen, Parolen. Worte, die wir biegen. Wir wollen mehr und dann sind es doch wieder nur Worthülsen, mit denen die Welt abgespeist wird.

In "Das Gefühl" kehren die nachdrückenden Klavierklänge zurück. Wenn die Wut in Schüben kommt, begleitet von Angst und Lügen. Aber mit dem Versprechen, dass der Schmerz vergeht. Erinnern, wie es war, vor so vielen Jahren – das ist Melancholie. Auch in "Die letzte Ballade" ist sie vertreten, mit schweren Textpassagen, die Hanau und Plastikverschmutzung thematisieren. "Lieder kann niemand verbrennen und sie sind warm, wenn du frierst." Und doch meint es im akustisch von Henning vorgetragenen Outro jeder besser zu wissen, "sogar beim Küssen".

So wie wir das Kreuz mit der Pandemie zu tragen haben, hadert auch "12" mit dem Jetzt. Düster am Anfang, wo alle noch unter Schock stehen. Dann das Aufatmen, wenn Lockerungen eintreten und alles wieder besser zu werden scheint. Gefolgt aber von der bittersüßen Wahrheit zum Schluss. Gefüllt mit Konfrontation und Gesellschaftskritik.

Daher auch der Wunsch der Band, das Album am Stück und die Songs der Reihe nach zu hören. AnnenMayKantereit erzählen ihre Pandemie-Geschichte besser, als man es von einem Corona-Album erwartet hätte. Zwar melancholisch, fast schon depressiv, aber auch aufbäumend und mit etwas Hoffnung, die wir hoffentlich nicht verlieren. "12" passt also in diese Zeit, die wir zu verstehen versuchen.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. So wie es war
  3. 3. Gegenwart
  4. 4. Gegenwartsbewältigung
  5. 5. Zukunft
  6. 6. Vergangenheit
  7. 7. Spätsommerregen
  8. 8. Warte auf mich (Padaschdi)
  9. 9. Paloma
  10. 10. Ganz egal
  11. 11. Aufgeregt
  12. 12. Interlude
  13. 13. So laut so leer
  14. 14. Das Gefühl
  15. 15. Die letzte Ballade
  16. 16. Outro

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