laut.de-Kritik
No Future? Scheiße, irgendwo muss es doch Future geben!
Review von Mathias MöllerAmerikanische Punkrocker sind, aus der Nähe betrachtet, schon ein komisches Völkchen. Aus Deutschland kennen wir Punkrocker als eine Subkultur, die den minimalen Konsenshorizont zwischen Antifaschismus, Ablehnung von staatlicher Autorität (weil Staat = Faschismus), antibürgerlicher Provokation (weil Bürger = Faschist) und Dosenbier (weil Bier + Weißblech = Klassenkampf, ergo Antifaschismus) zieht. Anders in den USA. Zumindest unausgesprochen ist ein gewisser Patriotismus durchaus salonfähig. Die grundlegende politische Forderung von 2000 bis 2008 lautete: Der Präsident und sein Gaunerkabinett müssen weg. Ansonsten behaupten Bands wie Rise Against im Interview schon mal, sie wären eigentlich gar nicht politisch.
So weit würden Anti-Flag sicher nicht gehen. Damit sind wir auch schon bei der zweiten führenden Gruppe, die ich dem Genre Politpunk zuordnen würde. Über die neue Anti-Flag-Platte muss man nicht viel schreiben. Die musikalischen Experimentchen wie Percussion-Elemente bleiben diesmal außen vor. Das siebte Studioalbum konserviert Anti-Flag in ihrer Essenz. Roher, technisch versierter, gut produzierter Punkrock, nicht zu sehr auf die Fresse, aber immer noch so hart, dass es zweifelsohne als "wütend" beschrieben werden darf.
Dabei bleibt natürlich die Frage nach dem Warum. Jetzt, wo der Heilsbringer Barack Obama im Amt ist, müsste doch alles gut sein?! Mitnichten! Da ist ja noch die wirtschaftliche Situation, "The Gre(A)t Depression". Verkürzt fordern Anti-Flag - typisch Punkrock - leicht realitätsfern in Anlehnung an einen französischen '68er-Slogan "The Economy Is Suffering … Let It Die", doch fragen sie im gleichen Song intelligent weiter: "Where are all the bailouts for the homeless and the poor?" Hier zeigt sich nach der überwundenen politischen Krise die weitere Daseinsberechtigung für amerikanische Punkbands in der Kritik an sozialen Verhältnissen.
Grundsätzlich ist der Charity-Gedanke, die Idee, dass man als gut situiertes Individuum in der Gesellschaft eine humanitäre oder vielleicht sogar religiös-ethische Verantwortung für weniger gut gestellte andere Mitglieder der Gesellschaft trägt, in den USA wesentlich präsenter als in der europäischen Zivilkultur. In dieser Tradition sehen sich offensichtlich auch Anti-Flag. Entsprechend geben sie auf dem der Promo-CD beiliegenden Waschzettel zu Protokoll: "Our band writes songs to build community and union, to create awareness ..." Aufmerksamkeit für die Zustände im modernen Amerika. Gleichstellung, Recht auf Arbeit, Recht auf gerechte Bezahlung, das sind die Themen von Anti-Flag.
Damit bewegen sie sich in einer kritischen gesellschaftlichen Bewegung, sind also so gesehen in einem Teil des Mainstreams angekommen. Im Rahmen ihrer Konzerte sammeln sie Geld für Brunnenbauten in Afrika oder bitten ihre Fans, alte Klamotten als Spenden für Obdachlose mitzubringen. Sie machen das, was man bei schicken Fundraisern auch tut. Es deswegen als bürgerlich abzulehnen ist sicher falsch. Es zeigt vielmehr, dass Punkrock in den USA ein soziales Moment bekommen hat, das das Genre weg vom ursprünglich destruktiven "No Future" hin zu einem konstruktiven "Scheiße, irgendwie muss es doch Future geben" bewegt. Und wenn es dann noch so gut klingt wie auf "The People Or The Gun", kann ich gut damit leben.
10 Kommentare
überaus erbauliche review.
schöne politik- und kuturwissenschaftliche abhandlung, lord of war.
ich mag das neue album nicht ganz so sehr wie zuletzt.
musikalisch empfinde ich es als ein wenig langweiliger und ideenlosser als zB bright lights oder blood & empire.
sowas wie "economy is suffering" bringt musikalisch nicht 10% der textlichen radikalität rüber. das kann man ja auch auf american pie soundtracks placieren.
ist anti flag nicht schon längst ausgelutscht? irgendwann geht einem das tierisch auf den sack, immer diese radikalität schrecklich *gähn/
ok dann werde ich wahrscheinlich mal reinhören, danke.
Ich empfehle immer noch "The Terror State". "Turncoat" und "Rank-N-File" sind zwei Toppeinsteiger.
Seltsam. Man hört the People or the Gun und fragt sich welche Band denn The bright Lights of America eingespielt hat. Hätte auch direkt nach For Blood and Empire kommen können.
Trotzdem ein klasse album