laut.de-Kritik
Mit einem alten Klavier zu neuer Stärke.
Review von Simon ConradsDass Beth Orton wirklich berühmt war, ist mittlerweile über zwanzig Jahre her. Seither bietet die Musikerin im Wechsel Comebacks und Funkstille. Ihr letztes Album "Kidsticks" erschien 2016, danach ging es wieder ruhig zu, zumindest musikalisch. Denn die Mutter zweier Kinder hatte privat genug zu tun: Da war der Umzug von der US-Westküste ins verregnete England. Zudem leidet sie an Morbus Crohn und womöglich neurologischen Problemen im Zuge der Behandlung, namentlich Anfälle, die sich auf ihr Gedächtnis auswirkten. Orton beschrieb dies gegenüber The Line Of Best Fit so: "Was wirklich passiert, ist, dass [das Gehirn] Erfahrungen durchlebt, die einen Schritt hinter dem liegen, was gerade stattgefunden hat.".
Im Laufe der Jahre bekam sie die Anfälle dank Medikamenten unter Kontrolle. Die Kinder kamen in die Schule, und Beth gewann wieder Konzentration, Erinnerung und Zeit zurück, um sich der Musik zu widmen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch ein altes, klappriges Klavier, das Orton auf dem Camden Market in London erstand. "Es schien einfach so, dass jedes Mal, wenn ich mich an das Klavier setzte, eine Erinnerung recht klar hervorgerufen wurde", erläuterte sie im oben erwähnten Interview. Die Schilderungen wirken geradezu esoterisch, etwa wenn sie beschreibt, wie sie sich in Erinnerungen verlor und diese in den neuen Stücken einfing, bevor diese auf ewig verblassten.
Dass aber tatsächlich etwas Mystisch zwischen Orton und dem Klavier vorgefallen sein muss, belegt nun "Weather Alive". Nachdem ihr Label die die Zusammenarbeit aufkündigt hatte, und Beth mit ihrem Produzenten während der Pandemie feststellte, dass die Remote-Arbeit nicht sonderlich fruchtete, entschloss sich die Musikerin, das Album in Eigenregie fertigzustellen. Eine glückliche Fügung, wie sich nun zeigt. Dass Orton nur ihren eigenen Visionen gefolgt ist, verleiht den acht Stücken eine besondere Intimität und Frische. Am besten hört man das dicht instrumentierte Album mit Kopfhörern und lässt sich von den meditativen Stücken einlullen.
Im Zentrum der Songs stehen das hallbeladene Klavier und Ortons ausdrucksstarke Stimme, gerade in Stücken wie "Fractals" nehmen aber auch Tom Skinner (Sons Of Kemet, The Smile) an den Drums und Tom Herbert am Bass gewichtige Rollen ein. Skinner liefert meist repetitive Beats, über denen sich die restlichen Instrumente entfalten. Mit dem düsteren "Forever Young" knüpft Orton an ihre Trip-Hop-Vergangenheit an, der Song fügt sich dennoch wunderbar in den Albumkontext. "Lonely" bietet dank Herberts grummelndem Bass einen fantastischen Groove, über den Orton Sorgen und Selbstzweifel darlegt: "And who'd dare to love me, I'm a whore / I'm too exposed, honey I'm rubbed raw / And all that makes it better is your touch". Sie klingt mit ihrer brüchigen Stimme, als wäre sie aus der Puste und macht so das Leiden an der eigenen Vergangenheit und Selbstwahrnehmung greifbar.
Auf "Weather Alive" ist alles im Fluss, es wechseln sich Optimismus und Pessimismus, Reue und Dankbarkeit ab. So können die eben zitierten Zeilen aus "Lonely" problemlos auf den fantastischen Titeltrack folgen, indem Orton immer wieder die Schönheit der Welt besingt: "It almost makes me wanna cry / The weathers so beautiful outside". Das Stück endet mit der erbaulichen Feststellung: "It's coming alive". Auch "Friday Night" bietet hoffnungsvolle Klänge, obwohl thematisch ihre alkoholreiche Jugend behandelt wird. Der Track gerät auch dank der vielen kleinen Gitarren- und Synth-Beigaben von Shahzad Ismaily und Francine Perry zu einem Highlight.
Mit dem unheimlich atmosphärischen "Unwritten" beschließt Orton die Platte. Besonders in der zweiten Hälfte, wenn sich der Song öffnet, und das Piano die Hauptrolle übernimmt, reißt das Stück mit und bietet einen angemessenen Abschluss für die eigene Kontemplation. Hoffentlich liefert das Album nach der längeren Pause nun auch einer neuen Generation von Musikhörenden Zugang zu Ortons beeindruckender Diskographie - besonders zu ihren Anfängen: Schließlich steht "Weather Alive" mit einem Bein fest in der Vergangenheit und arbeitet mit den Erinnerungen an ältere Versionen der Musikerin. So findet Beth zu neuer Stärke und liefert eines der besten Werke ihrer Karriere.
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