laut.de-Kritik
Anlass zu Wut und Frust gab es auch schon in den 90ern.
Review von Christian Schmitz-LinnartzNirvanas "Nevermind" war gerade ein Jahr alt, ebenso der Durchbruch der Chili Peppers mit "Blood Sugar Sex Magik" und Tracks wie "Under The Bridge" oder "Give It Away", einem Hybrid aus Rock, Funk und Rap. Helmet brachten mit "Meantime" eine LP raus, die den Hardcore, das Gedresche, wie man es damals kannte, hinterfragte, ein wenig aufbrach, indem sie einfach das Tempo etwas schleppender machten und die Gitarreneffekte von Einstellung 'Schrammel' auf 'Dampfwalze' oder 'Wand' stellten. Viel vom dem sollte sich auch - wohl eher zufällig als bewusst - bei "Urban Discipline" zeigen; aber auch noch etwas, was bis dato zumindest in meiner Wahrnehmung fehlte, nämlich die Drehung von Hip Hop in Richtung Energie oder die Drehung von Metal/Crossover in Richtung Rhythmus-Entschleunigung, in Richtung 100 bpm.
Ich weiß noch genau, wo ich an dem Nachmittag saß, als die Worte des "Punisher" Dolph Lundgren aus dem gleichnamigen Film als Songintro in einer der damals mannigfaltigen Alternative-Music-MTV-Sendungen aus dem Lautsprecher des Fernsehers kamen, nämlich bei Woifi auf dem Sofa bzw. auf dem Sofa seiner Eltern. Als bei Sekunde 24 die tiefer gestimmten Gitarren losgingen, wurde ich sehr hellhörig und habe in meiner Erinnerung die anderen gebeten, die Gespräche einzustellen. Beim Einsatz des Schlagzeugs stand ich auf und ging näher zum Fernseher, es durchfluteten mich die ersten Ströme an Glückseligkeit. Als der Rhythmus bei 1:10 intensiver wurde, also eine gute Minute später, war mein Weltbild nicht mehr dasselbe.
Dann hieß es warten auf das Album. Wir schreiben den November 1992, vor dreiunddreißig Jahren, als sowohl das Debütalbum von Rage Against The Machine ("R.A.T.M.") als auch "Urban Discipline" von Biohazard binnen einer Woche auf die Menschheit losgelassen wurden.
Binnen einer Woche fand somit die Katalyse von etwas statt, was fürderhin als Crossover bezeichnet werden werden sollte. Doch während die Resonanz auf das Album von R.A.T.M. gleich erheblich war und auch die Hip Hop-Community überzeugte, hatten Biohazard es schwer. Zu grölig und dreckig für die Hip Hop-Community, vom Rhythmus her zu langsam für die Thrash-Metal-Community, die, wie es der Name sagt, gern in double-time auf das Schlagzeug drosch, für Hardcore-Community zu - ja was eigentlich?
Vielleicht war es die Attitüde? Optisch mit einem Langhaarigenanteil von 75 Prozent und im Gegensatz zu Sick Of It All und Mike Muir von den Suicidal Tendencies, die mit Sneakern, Beanies und Bandanas auftraten, weckten Biohazard eher Assoziationen zu Metal, machten aber - auf dem Nachfolgealbum noch intensiver - einen Sound, den man als bouncig oder knopfnickbegünstigend beschreiben könnte. Einen Sound, den man nach der Logik einer Hip Hop-näheren Ästhetik eher Bands wie SOIA oder Suicidal Tendencies zugeschrieben hätte.
Oder es war der Ansatz? Sie formulieren Haltungen etwas anders, neu. Denn auch, wenn politische Haltungen im großteils weißen Thrash Metal und Hardcore eigentlich klar waren, positioniert sich die Band im Gegensatz zum latent elitären, an Studenten erinnernden dozierenden Dünkel der Hardcore-Szene. Es gibt Straße anstatt Debattierclubs, verfilzt statt gekämmt, und proll.
Inhaltlich ist da viel Wut. Da ihnen aufgrund des Tracks "Justified Violence" vom Debütalbum Rassismus vorgeworfen wurde, positionieren sie sich hörbar: "Fascism, the epitome of ignorance" heißt der erste Satz in "Black And White and Red All Over". Bassist Seinfeld sagt, er müsse als Jude schon schön doof sein, ein Nazi zu sein. Dass auf dem Albumcover ein weißes und ein schwarzes Kind zu sehen sind, könnte man auch als Sinnbild verstehen.
"Business" und "Man With A Promise" setzen sich mit der Enttäuschung mit ihrem alten Labelchef auseinander, von dem sie sich über den Tisch gezogen fühlen. Anlass zu Wut und Frust gab es zu Beginn der Neunziger generell viel. New York City und das Stadtviertel Brooklyn, das Biohazard grölend auf die musikalische Landkarte katapultieren sollten, kamen gerade aus den Achtzigern, städtischer Fiskalsparpolitik samt Verbrechens- und Drogenpeak, "before Giuliani turned Times Square to Walt Disney", wie R.A. The Rugged Man rappte.
So ist auch die Band gezeichnet von Gewalt und Trauerbewältigung, "It burns inside to lose a friend" singt Seinfeld im Intro von "Loss". Bobby Hambel hat der Legende nach deshalb ein schiefes Gesicht, erzählt man sich damals, weil es schon einmal mit einer Eisenstange "behandelt" wurde. So ist es halt auf der "Wrong Side Of The Tracks".
Musikalisch ist "Urban Discipline" nichts für 'nouvelle-cuisine'-verliebte Feinschmecker, eher die von Frittierfett triefenden Pommes mit Mayo und Zwiebelstückchen. Aber was für Pommes und was für eine Mayo, und möchte man in dieser Bildsprache bleiben, mit der genau richtigen Schärfe, nämlich einem Drummer, der mit seiner Vehemenz und Präzision nach wie vor zu den Besten seiner Zunft gehört. Wer sich bei "Loss", wenn das Schlagzeug einsetzt, bei "Punishment", beim Intro von "Mistaken Identity" und vor allem beim Beginn von "Urban Discipline" nicht in dieses Schlagzeugspiel verliebt, hat - Achtung, steile These - kein Herz.
Hierzu kommt das Zusammenspiel mit Bass und Gitarren, als wollten dir alle vier zusammen in der selben Hundertstelsekunde den Skalp wegpusten. Sie schrauben sich hoch, untermalen und konterkarieren sich. Um nicht langweilig zu werden, wechseln sie oftmals mit dem verlässlichen Abstand von vier Takten Rhythmus und Stimmung. Wer diese Platte liebt, ging all das nach kurzer Zeit mit; und dennoch war da dieses Verbindliche, die Dampfwalze mit dem Bouncen.
Die Samen waren gesät, auch Größen in Thrash Metal und Hardcore wie Sepultura oder Suicidal Tendencies schwenkten ein in diese Richtung, Ice T gründete Body Count, es entstanden Downset, Stuck Mojo, Dog Eat Dog und ritten auf der Welle mit. In England/Wales reicherten Dub War den Crossover mit Ragga/Dancehall an. Doch besonders im deutschsprachigen Raum sollte die Szene explodieren, zu viele Bands, um sie alle zu nennen, Such A Surge, Headcrash, Blackeyed Blonde oder auch im etwas poppigeren Segment die gerade wieder tourenden H-Blockx.
Ich verwette mein allerliebstes Hinterteil, dass nicht eine dieser Bands den Einfluss von "Urban Discipline" auf ihr Schaffen verneinen würde.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.


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