laut.de-Kritik
Ein Mensch aus Husten, Fleisch und Blut.
Review von Giuliano BenassiBob Dylans Bootleg Series ist normalerweise ein Grund, feuchte Hände zu kriegen. In unregelmäßigen Abständen öffnen der Altmeister und seine Plattenfirma die Pforten zu ihren Archiven und ziehen meist Erstaunliches hervor.
Dabei missachten sie jegliche chronologischen Reihenfolge: Nachdem "Vol. 8" Material aus den Jahren 1989 bis 2006 enthielt, kehrt "Vol. 9" zu den Anfängen von Dylans Karriere zurück.
Genauer gesagt zur ersten Hälfte der 60er Jahre, als der junge Mann aus Minnesota bereits in New York lebte und eifrig Lieder schrieb, aber noch auf den Durchbruch wartete. Die Ideen sprudelten nur so aus ihm heraus, wenn man bedenkt, dass er zwischen 1962 und 1967 ganze acht Alben veröffentlichte. Die parallel zu dieser Sammlung als "The Original Mono Recordings" remastered und in hübscher Verpackung erscheinen.
Um sich über Wasser zu halten, stellte Dylan seine Stück auch anderen Künstlern zur Verfügung. Das magische Wort dabei: Tantiemen. Geteilt zwischen dem Künstler und der Verwertungsgesellschaft, die in den ersten Monaten 1962 noch Leeds Music, anschließend "M. Witmark & Sons, ASCAP" hieß.
Der Barde saß dabei in einem Zimmer seiner Plattenfirma mit Gitarre, Klavier und Mundharmonika und spielte ohne großen Aufwand seine Kreaturen ein. Erfolgreich, denn noch bevor er unter eigenem Namen berühmt wurde, hatten sich schon Peter, Paul and Mary oder Joan Baez mit Songs von ihm internationale Aufmerksamkeit erlangt.
Knapp ein halbes Jahrhundert später verwertet Dylan seine Demos noch einmal selbst. Das Material ist altbekannt und nicht nur auf inoffiziellen Pressungen schon seit vielen Jahren im Umlauf: Fünf der besten Stücke – man könnte auch sagen: die fünf besten Stücke – gab es schon auf den offiziellen Bootlegs "Vol 1.-3" und "Vol. 7". Darunter "Don't Think Twice, It's All Right", "Walkin' Down The Line", "When The Ship Comes In" und der Evergreen "The Times They Are A-Changin".
Hat die vorliegende Platte also eine Daseinsberechtigung, außer Dylans ohnehin pralles Bankkonto noch weiter zu füllen? Ja, denn wie gewohnt fällt die Gestaltung des Paketes üppig aus. Nicht nur beim 60-seitigen, reich bebilderten Booklet mit ausführlichem Erklärungstext, sondern auch bei den Silberlinge an sich. Natürlich wurde auch die Tonqualität aufgemotzt, sofern überhaupt möglich. Die grandiose "Ballad Of Hollis Brown" etwa kommt sehr dumpf daher, wie auch das abschließende "I'll Keep It With Mine".
Etwas anderes zu erwarten wäre auch vermessen. Die meisten Stücke ähneln den bekannten späteren Studioversionen. Mit vereinzelten Ausnahmen wie dem Intro zu "Don't Think Twice".
Der wahre Fan sucht etwas anderes. Nämlich nach Zeichen, dass Bob Dylan ein Mensch in Fleisch und Blut ist. Die gibt es zuhauf. Gleich das erste Stück bricht Dylan mit der lakonischen Bemerkung "I've lost the verses" ab. "Blowin' In The Wind" spielt er auf dem Klavier, mit einem kleinen Hustenanfall mittendrin. "Let Me Die In My Footsteps" endet mit der Bemerkung "it's such a drag. I sung it so many times".
CD 1 überrascht zum Schluss mit einer bekannten Melodie, die nicht von Dylan stammt. "Farewell" ist ein Remake des Folk-Stücks "Leaving Of Liverpool", das später zu den bekanntesten Songs im Repertoire der Dubliners und der Pogues gehörte. Das war Dylan eben auch: Ein Experte des American Songbooks, das er nach wie vor eifrig zitiert und umarbeitet.
Letztendlich fällt "Vol. 9" nicht ganz so interessant aus wie "Vol. 8". Aber es macht sich gut im Regal und fällt um Lichtjahre besser aus als das schreckliche Weihnachtsalbum aus dem Vorjahr.
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