laut.de-Kritik
Eine Säule des Midwest-Emo-Sounds.
Review von Christian KollaschWas käme dabei heraus, wenn eine Band wie Fugazi sehr nah am Wasser bauen würde? Mit "Frame & Canvas" lieferten Braid eine phänomenale Antwort auf diese Frage, indem sie beherzten Doppelgesang aus dem Post Hardcore mit poppigen Gitarrenmelodien kreuzten und damit eine Säule des Midwest-Emo-Sounds errichteten.
Im Vergleich zu Genre-Weggefährten wie Cap'n Jazz oder American Football rückten Braid die frickeligen Math-Riffs auf "Frame & Canvas" in den Hintergrund. Auf diesem Album dominieren vorwärtsgetriebene Kraftbrocken, die trotz all der Eingängigkeit nicht auf komplexe Songstrukturen verzichten. Mit ihrem dritten Album erreichte die Band aus Champaign, Illinois 1998 ihren Zenit und verglühte, noch bevor das neue Millennium anbrach.
Dabei startete die Band, die Sänger und Gitarrist Bob Nanna 1993 als Nebenprojekt für seine damalige Band Friction gründete, als er für sein Studium von Chicago nach Champaign zog, mit eher grobschlächtigem, fast schon überambitioniertem Post Hardcore. Das Debütalbum "Frankie Welfare Boy Age 5" von 1995 uferte zu einem überladenen Doppelalbum aus, durchsetzt von statischem Radiorauschen und frei von Kohärenz. Einzelne Songperlen fanden sich aber schon hier. Auf dem Nachfolger "The Age Of Octeen" verdichteten Braid ihren Sound. Hier dominierten jazzige Grooves, ausgeklügelte Gitarrenläufe und rohe Gefühlsausbrüche das Klangbild.
1997 verließ Schlagzeuger Roy Ewing während der Tour zu "The Age Of Octeen" die Band. Ihn ersetzte Damon Atkinson, dessen Stil mehr Durchschlagskraft besaß und sich mehr am klassischen Rock'n'Roll orientierte. Mit ihm zusammen schrieben Braid das meiste Material für "Frame & Canvas", während sie tourten. Bob Nanna erinnerte sich später: "Wir haben 'Never Will Come For Us' in irgendeinem Wohnzimmer geschrieben."
Diese Herangehensweise merkt man "Frame & Canvas" in jeder Minute an. Hier rauschte eine voll eingespielte Band mit großem Elan ins Studio und packte dieses Momentum verlustfrei in zwölf schwindelerregende Songs. Zusammen mit dem Produzenten J. Robbins (Jawbox) spielten Braid die Aufnahmen in fünf langen Tagen in den Inner Ear Studios in Arlington, Virginia ein. Am Ende dieses Ritts hatten sie ihr Meisterwerk im Kasten.
Das Rückgrat dafür bilden Nanna und Chris Broach, deren Gitarren sich stets im Schlagabtausch befinden. Ihre Vocals arten zu hitzigen Wortgefechten zwischen sanfter Gefühlsduselei und frenetischen Wutausbrüchen aus, immer auf den Spuren von Wegbereitern wie Fugazi oder Hüsker Dü.
Auf dem Opener "The New Nathan Detroits" treibt Neuzugang Atkinson das Riffkarussell mit seinem vertrackten und zugleich unermüdlichen Schlagzeugspiel nach vorne, um dann schlagartig die Bremse zu betätigen. Schon dieser Song erzeugt akustische G-Kräfte und strotzt vor Explosivität und Spielfreude, die über die gesamte Laufzeit nicht mehr verloren geht.
"Killing A Camera" spinnt das Frage-Antwort-Spiel der Gitarren weiter, während Todd Bells Bass im Hintergrund vergnügte Soloausflüge macht. Braid geben hier ein eindrucksvolles Beispiel dafür ab, wie eine perfekt aufeinander abgestimmte Band klingt, wenn sich die Rhythmussektion und die Gitarren so harmonisch ergänzen, aber stets Freiraum für die eigene Entfaltung bleibt. Alles zusammengenommen gerät zur wohligen Endorphinausschüttung.
"I had plans but they never seemed to work out / Wide-eyed and on the lookout / Got caught tearing the whole thing down / I was halfway done". Inhaltlich setzen sich Braid vor allem mit ihren eigenen Unsicherheiten und Zukunftsängsten auseinander. Die damals Anfang Zwanzigjährigen schreiben auf "Frame & Canvas" ihre eigene Coming of Age Story nieder. Liebeskummer darf da natürlich nicht fehlen: "Dozen roses in a car / I don't know where you are", trauert Nanna in "A Dozen Roses". Lyrisch geben sich Braid trotz des hohen Kitschrisikos souverän und erzeugen mit simpel gehaltenem Storytelling starke Bilder im Kopf.
Dabei wirkt "Frame & Canvas" trotz der Inhalte und des Emo-Labels keinesfalls weinerlich oder niedergeschlagen, sondern strahlt jederzeit Kraft aus. Zur Unsicherheit im jungen Alter gehört eben auch die Hoffnung und ungezügelte Abenteuerlust, die Braid hier ebenfalls kanalisieren.
"First Day Back" tritt mit den Gitarren direkt die Tür ein, während Nanna sich mit seinen Vocals in luftige Höhen schwingt. Anschließend treiben Braid dann doch noch ein frickeliges Math-Rock-Riff auf die Tanzfläche und spätestens zum Schluss, wenn Broach mit seinem kehligen "Yeah! in den Song grätscht, gerät dieser zum akustischen Antidepressivum.
"Milwaukee Sky Rocket" haut in die gleiche Kerbe und poltert wie ein Perpetuum Mobile der guten Laune durch die Boxen. So roh und ungefiltert Braid auch bleiben, das Songwriting schlägt immer wieder Haken, überrascht mit filigranen Einschüben, Tempowechseln und gesanglichen Überfällen. Die Band läuft über die gesamte Spielzeit im roten Drehzahlbereich und bleibt dabei dennoch, komplex und innovativ.
Erst ganz zum Schluss atmen sie mit "I Keep A Diary" einmal durch. Mit diesem eindringlichen Slowburner schunkeln Braid sich den Herzschmerz von der Seele: "Come on, come on / So long, so long / Move on, move on". Dass dieser Song auch ihr eigener Abgesang sein wird, wussten Braid zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch nicht.
"Frame & Canvas" geriet zum kleinen Erfolg über die Heimatszene hinaus und ermöglichte der Band Touren in Europa, Japan und Hawaii. Die andauernde Zeit im Van und das wenige Geld, das dabei heraussprang, zermürbte die Bandmitglieder. Es gab keinen großen Streit, keine Skandale und keine Allüren. Die Band hatte sich am Ende einfach nur satt. Als Braid sich 1999 auflösten, gab es keinen großen Knall. Diesen hatten sie mit "Frame & Canvas" bereits vorgeschoben.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare
bildungslücke. danke für den artikel ♥ ♥ ♥
Oh, wow! Damit hätte ich in meinem Leben nicht gerechnet!!!
cool! ♥