laut.de-Kritik
Taschentücher raus!
Review von Philipp Kause"Broken Horses" von Brandi Carlile ist die beste laute Classic Rock-Ballade seit Amanda Marshalls "Last Exit To Eden" und für mich der bisher beste Song aus 2021. Dass bei diesen wuchtigen Piano-Patterns selbst Pferde zerbrechen, glaubt man schnell. Brandi Carlile bewegt sich zwar nicht im Power Melodic Rock einer Doro, sondern ist im Americana-Country- und Folk-Soul sozialisiert. Die Wirkung ihrer Platte "In These Silent Days" lässt sich trotzdem als Mischung aus einer Whitesnake-Acoustic-Show und einem Set von Tori Amos-Hymnen wahrnehmen. Letzterer Eindruck entsteht überall dort, wo das Klavier dominiert.
Zum Beispiel in "Letter To The Past". Der allegorisch ausgeklügelte Text fordert wahrscheinlich auch Native Speakers heraus. Die Vocals zeigen eine Sängerin voller Feingefühl, die ihre Empathie, Beobachtungsgabe, Erzählfreude, lyrischen Rätsel und metaphernreichen Szenarien, ihre Sensibilität und Sensitivität und auch ihre Begeisterung für stille, dominante, schnelle und etwas langsamere Nummern mit Bravour technisch umsetzen kann. Ihre Stimme wirkt in jedem Takt und jedem Wort spannend.
Die 40-Jährige borgt sich aus der Country-Tradition gerade so viel aus, wie sie als absolutes Minimum benötigt. Im Stück "Mama Werewolf" kommt da relativ viel zusammen: wild gefärbte Cowgirl-Stimmlage, voller Schmerz, abgekämpft, metallisch; Bluegrass-Folkrock, hoch gestimmte Akustikgitarren; und ordentlich Action.
Die Melodie gebärdet sich dort trotzdem flexibler als im Country üblich. Für den Gesangsvortrag erlaubt sich Carlile gestalterische Freiheit, tönt expressiver als in der Nashville-Genre-Diktion. So wie an dieser Stelle, leistet die Künstlerin viel Direktheit, Klarheit und Eingängigkeit und durchdringt somit rasch die Barriere zum Hörer. Dieser Songwriter-Rock will unbedingt, dass wir unsere Taschentücher rausfingern, mitsummen, bis zum Tori Amos'schen oder Kate Bush-artverwandten Schrei-Höhepunkt, der Katharsis, dem Peak, hier in "When You're Wrong", das so intensiv traurig gestimmt wie die most saddest moments von Skunk Anansie rüberkommt und in schlichte Akustikgitarre extremen Schmerzausdruck packt. Es geht darum, wie man den inneren Kern eines Nahestehenden nicht mehr erreicht, weil der Mitmensch sich selbst aufgegeben hat.
Alle Kompositionen auf diesem achten Album der Eastcoast'lerin sprühen vor rührenden Akkordfolgen, dramatischen und betondichten Arrangements und entzückenden Melodien. Für das letzte Drittel der zehn Stücke entschied sich Brandi, in intensiven Opulenz-Folk zu investieren.
Der Track "Sinners, Saints And Fools", "Sündige, Heilige und Dumme" fungiert als Aufhänger für die große Entladung. Auf diese Kulmination an Gefühlsausbrüchen folgt eine fragile, weiche Ballade: "Throwing Good After Bad" kredenzt die Gospelsoul-Süße eines modernen Weihnachtsliedes und setzt somit einen klaren Kontrast z.B. zur opernhaft hochgeschaukelten und pathetischen Einstiegsnummer "Right On Time".
Die mit Gästen von Lucius souverän hingeschmissene Nummer "You And Me On The Rock" klingt wie ein Hybrid aus Joni Mitchells Straightness und Stevie Nicks' Pop-Kompromissen.
Insgesamt ereignet sich in kurzer Spielzeit sehr viel auf dieser Scheibe. Verschiedenste Stimmlagen, mitunter überraschend hoch und dominant laut, geben immer wieder Impulse ab, die Platte weiter, noch weiter und immer wieder von vorne zu hören. Bei der Instrumentierung wurde erkennbar mit Überlegung und Geschmack vorgegangen, um eine zeitlose, geschliffene, originelle und wirklich schöne Liedersammlung zu vervollkommnen.
Dank des hohen Unterhaltungswerts und ihres Verzichts auf enge Genre-Korsette kann man der kreativen Singer/Songwriterin ein Meisterwerk attestieren. So wie es ihr bei der Entstehung ging, dass das Schreiben und Aufnehmen "durchfloss", so überträgt sich der Schwall an gut reflektierten und kanalisierten Emotionen voller Trauer und Freude auf den Hörer.
"In These Silent Days" wandelt stille Einsamkeit in lauten Expressionismus. Brandi vereint das Beste von Sheryl Crow, Sarah McLachlan, Heather Nova, Alanis Morrisette und Edie Brickell in einer Person. Doch niemand anderes tritt mit dieser Rezeptur in Sound und Stilmix an.
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