laut.de-Kritik
Mr. Roxy Music im Babylon Berlin.
Review von Ulf KubankeBerlin Ende der 20er Jahre: ein Cocktail in Weimar? Warum nicht! Wie mit der Zeitmaschine hergebeamt steht der wie immer perfekt gewandete Inbegriff des English Gentleman auf der Bühne und singt für sein amüsierwilliges Publikum. Es handelt sich um keine Halluzination, sondern um Bryan Ferrys formvollendeten Gastauftritt in "Babylon Berlin". Genau diese Szene markiert den Schlüsselmoment für "Bitter-Sweet".
Nach dem eleganten, bisweilen unterschätzten Darkpop "Avonmore" zieht es Ferry einmal mehr in jene Ära, die als Wiege des Jazz gilt. Als dieser Stil langsam aber sicher Laufen lernte, war die Welt zerrissen zwischen Glanz und Elend, Freiheit und Gewalt. Popkulturell verehren nicht wenige diese mit knallenden Schampuskorken am Abgrund wandelnde Zeit in Form ihres existentialistischen Symbols Berlin. Sei es Lou Reed oder David Bowie - oder Bryan Ferry, der keine Ausnahme bildet.
Entsprechend enthusiastisch schenkte Mr. Roxy Music der düsteren Krimiserie mehrere auf Roaring Twenties gebürstete Variationen von Roxy- und Solo-Klassikern. Hieraus entstand seine Idee, ein ganzes Album zu fabrizieren, das dem Geist von F. W. Murnau, Fritz Lang und heftigen Exzessen huldigt. Die Methode, eigene Stücke aus ihrem 70er/80er-Rahmen zu brechen und gen Ragtime etc. umzutopfen, ist bei Ferry nicht neu. Bereits vor einigen Jahren arrangierte er auf "The Jazz Age" einige Stücke in nahezu identischer Form.
Ab dieser Erkenntnis befindet sich der Hörer am Scheideweg. Manch einer wird den Zwilling "Bitter-Sweet" trotz seiner hervorragenden handwerklichen Umsetzung als lahmen Neuaufguss empfinden, dessen Pointe beim zweiten Mal nicht mehr recht zündet. Der alte Fuchs(jäger) scheint die Angriffsfläche geahnt zu haben. Deshalb ließ er im Voraus eine Expertise des renommierten Princetoner Musikprofessors Simon Morrison erstellen, die den 13 Stücken bescheinigt: "Ferrys Musik umfasst die Kunsthaftigkeit der Kunst und die Kunstlosigkeit der Emotion."
An dieser Einordnung ist durchaus etwas dran. Die Musik geht noch einen Schritt weiter als auf Teil eins, sie fokussiert exakt das Ende der 20er und nicht lediglich ungefähr jene Zeitspanne. Zünglein an der Waage ist jedoch Ferrys hier weit aktiverer Part. Während "The Jazz Age" keinerlei Gesang bot und Ferry eher als Herausgeber fungierte, bringt er sich hier auf acht Tracks stimmlich voll ein.
Seine Vocals transportieren genau jenes Quäntchen mystisch angehauchter Dunkelheit, die er so perfekt beherrscht. Damit passt sein Vortrag hervorragend in die beklemmende Atmosphäre jener Zeit im Allgemeinen und des düsteren Krimiplots im Besonderen. Das bei Brecht/Weill wildernde Titelstück oder die nachtschattige Finsternis von "Boys & Girls" liefern hierzu perfektes Anschauungsmaterial. Sogar eher munter arrangierte Stücke wie "Alphaville" oder "Reason Or Rhyme" tragen einen unheilvollen Kern im Herzen.
Auch die reinen Instrumentals gehen tiefer als anno 2012. Als Anspieltipp empfehle ich die Interpretation des 1987er "Bete Noire"-Juwels "Limbo". Trotz noch nicht einmal dreiminütiger Spielzeit eröffnet sich eine Bandbreite von Schwermut über niedlichen Charleston bis hin zur romantischen Ballade. Besonders das verzückende Aneinanderreihen von gestopfter Trompete und quietschfideler Klarinette sollte sich niemand entgehen lassen.
So gilt hier für das Verhältnis von "Bitter-Sweet" zu "The Jazz Age" analog dieselbe seltene Ausnahme wie für "Der Pate I" und "II": Der zweite Teil ist sogar noch besser.
3 Kommentare
Habe Bryan Ferry vorgestern live als Haupt-Act bei Night Of The Proms erlebt... musste leider feststellen, dass er lieber in den verdienten Ruhestand gehen sollte...
In der Tat lässt nun Bryan Ferry stimmlich nach. Live war er wohl ziemlich enttäuschend bei der Night of the Proms.
Starkes Album von Bryan. Eigentlich will man ja die alten Recken live sehen, wenn schon nicht Roxy, dann wenigstens Paul Tompson, Chris Spedding und vor allem Lucy Wilkins:
https://www.youtube.com/watch?v=34hFiuoDug8