laut.de-Kritik
Ihr Meilenstein nach 45 Jahren erstmals in voller Länge.
Review von Giuliano BenassiEin paar Zahlen: Im ersten Jahr nach seiner Veröffentlichung im Februar 1971 verkaufte sich "Tapestry" 15 Millionen Mal und heimste vier Grammys ein. Weitere zehn Millionen Exemplare folgten. Bis April 2017 war es das einzige Album einer Künstlerin, das über 300 Wochen lang in den US-Billboard 200-Charts vertreten war (318, um genau zu sein), seitdem überflügelt von Adeles "21". Wirklich erstaunlich aber ist: Nie in ihrer Karriere hat Carole King das Album komplett aufgeführt. Bis zum Abend des 3. Juli 2016, als sie im Rahmen des British Summer Time-Festivals im Londoner Hyde Park auftrat.
Ein denkwürdiges Ereignis also. 65.000 Zuschauer und die mittlerweile wie üblich gesalzenen Ticketpreise bewiesen, dass King und ihr Album 45 Jahre nach der Erstveröffentlichung nach wie vor eine große Anziehungskraft besitzen. Sichtlich gerührt betrat die 74-Jährige die Bühne, nicht barfuß, in Jeans und mit Strickpulli wie auf dem Cover von "Tapestry", sondern mit Stöckelschuhen und eleganter Abendgarderobe. Schließlich gab es etwas zu feiern.
Erstaunlich wie ähnlich sich die beiden Caroles trotzdem noch sehen. Gut gelaunt nimmt sie am Flügel Platz und führt ihre Band in den Opener "I Feel The Earth Move". Ihre Stimme klingt rauer als damals, dafür energiegeladener. An Qualität hat sie nicht eingebüßt, wie das zweite Stück, die schmachtende Ballade "So Far Away" beweist. Ein Abend, der einen in Erinnerung schwelgen lässt, das Publikum als auch die Künstlerin. Die Arrangements orientieren sich am Original, auch wenn sich die Band die eine oder andere Ausschmückung zugesteht.
Spätestens mit "You've Got A Friend", als die Zuhörer bei einem Takt Pause den Gesang übernehmen, sind sie mit den Musikern eins. King lächelt verschmitzt, zeigt sich erfreut ("Hey, das gefällt mir, wenn ihr singt!") und zum Schluss mit glänzenden Augen. Schade, dass auf der CD relativ wenige Ansagen übrig geblieben sind. So erzählt sie vor "Where You Lead", dass sie das Lied live nie gespielt habe, weil es ein allzu traditionelles Frauenbild vermittle. Für die TV-Serie "Gilmore Girls" entstand im neuen Jahrtausend jedoch eine umgeschrieben Version, die auf eine Mutter und ihre Tochter umgedeutet wurde. Folgerichtig, dass sie diese Neufassung im Duett mit ihrer eigenen Tochter Louise Goffin singt.
Die Kürzungen sind wohl dem Umstand zu verdanken, dass die CD mit über 79 Minuten eh schon bis zum Rand gefüllt ist. So muss man auf die DVD/Blu-ray zurückgreifen, um sich im Vorspann die Video-Huldigungen namhafter Kollegen und Schauspieler wie Tom Hanks, Elton John, David Crosby, Graham Nash und "Tapestry"-Produzent Lou Adler anzuhören. James Taylor, der mit "You've Got A Friend" seinen größten Hit landete und der mit King 2010 tourte, huscht zu Beginn auch über die riesigen Videoflächen, steht allerdings nicht auf der Bühne. Ebenfalls gelungen sind die vielen Bilder aus den frühen Karriere-Jahren. Und für "Smackwater Jack", in denen Carole mit E-Gitarre auf Joan Jett macht und Louise eine Solo beisteuert, sowie "(You Make Me Feel) Like A Natural Woman". Das Stück, das "Tapestry" abschließt, war ursprünglich ein Hit für Aretha Franklin. Gelungen singt es King zu Beginn im Duett - mit sich selbst - ihrem jüngeren Ich auf den Video-Leinwänden.
Den zweiten Teil des Konzerts widmet King ihrer "anderen Karriere", als sie mit Louises Vater Jerry in den 1960er Jahre eine Hitschmiede bildete. Das Medley aus "Take Good Care of My Baby", "It Might As Well Rain Until September"
(beide für Bobby Vee), "Go Away Little Girl" (Bobby Vee, Steve Lawrence), "I'm Into Something Good" (Herman's Hermits) bestreitet sie alleine am Flügel. Für die restlichen Goffin/King-Stücke, darunter eine mitreißende Version von "Chains", steigt dann auch die Band mit ein, die natürlich aus Top-Session-Musikern besteht: Gitarrist Danny Kortchmar, der schon bei den Aufnahmen des Studioalbums mit von der Partie war und Keyboarder Robbie Kondor, der mit Kings Tochter Sherry verheiratet war und wiederum seinen Sohn (Kings Enkel), Gitarrist Dillon anschleppte. Zeitweise sind also drei Generationen an Goffin/Kings auf der Bühne.
Die füllt sich dann richtig, als King mit dem Londoner Cast des erfolgreichen autobiographischen Musicals "Beautiful" erneut den "Tapestry"-Opener "I Feel The Earth Move" anstimmt. Zum Schluss setzt sie sich nochmal alleine ans Klavier und singt mit dem Publikum eine Kurzversion von "You've Got A Friend". Der rührende Abschluss eines wunderbaren Auftritts, der womöglich ihr letzter war. Davor hatte sie schon angekündigt, kürzer treten zu wollen. Bei der Veröffentlichung dieses Mitschnitts ein gutes Jahr später stehen immer noch keine neuen Termine fest. Schade.
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