laut.de-Kritik

Das perfekteste Pop-Album, das nie ein Pop-Album sein wollte.

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Saufen! Fußball! Saufen! Das war so in etwa die große Message, die das breite Publikum 1997 und 1998 aus Chumbawambas Hit "Tubthumping" mitnahm. Wem die "I get knocked down, but I get up again / You are never gonna keep me down" grölende Masse da einen Hit bescherte, war den meisten nicht bewusst. So manche*r dürfte auf Albumlänge oder Konzerten ein böses Erwachen erlebt haben.

Chumbawamba waren aus tiefsten Herzen eine radikale Anarcho-Punk-Band, die sich gegen Faschismus, Homophobie, Kapitalismus und andere soziale Ungerechtigkeiten stellte und mit PETA sympathisierte. Auch in ihren von Parolen durchzogenen Texten zeigten sich sich radikal und anarchisch. "Tubthumping" war ihr in wenigen Minuten geschriebener Spaß, der die damals bereits in Auflösung befindliche Band wieder zusammenführte. Im Fahrwasser des Hits entwickelte sich das Album "Tubthumper" zu ihrem größten Erfolg.

Zu dem Zeitpunkt lagen schon fünfzehn wilde Jahre und sieben Alben hinter der aus linken Szene der düsteren, erzkonservativen Thatcher-Ära stammenden Band. Ihr Debüt "Pictures of Starving Children Sell Records" erschien 1986. Mit jedem einzelnen Jahr erweiterte sich ihr musikalischer Horizont.

Die Liste der Genres, die sie nicht verwendeten, dürfte wohl kürzer ausfallen als jene, die es letztendlich in die Chumbawamba-Wundertüte schafften. So bietet ihr bestes Album "Anarchy" 1994 eine Mischung aus Alternative, Folk, Reggae Fusion, New Wave, Dance-Beats, Electronica und dem Spirit des Punks. Zu guter Letzt kam noch eine gehörige Prise Ace Of Base hinzu. Ulf Ekbergs widerliche rechtsradikale Vergangenheit ersetzte man jedoch durch herrlich linke Parolen. Nie machte das Mitsingen von Zeilen wie "Give the fascist man a gunshot" ("Enough Is Enough") so viel Spaß. So entstand aus Versehen das perfekteste Pop-Album, das nie ein Pop-Album sein wollte.

Bereits im Opener "Give The Anarchist A Cigarette" fasst die aus Leeds stammende Band all dies zusammen, vereinnahmt vom ersten Ton an. Über Jahre hatte sich das Spiel zwischen Sängerin Alice Nutter und Shouter Danbert Nobacon perfektioniert. Der Song selbst stellt eine Abrechnung mit dem - in ihren Augen - Pseudo-Revolutionär Bob Dylan dar und basiert auf einer Szene aus der "Don't Look Back"-Dokumentation. In dieser teilt Dylans Manager Grossmann ihm mit: "They're calling you an anarchist now." Seine Reaktion: "Give the anarchist a cigarette." Auf dieses Zitat lassen Chumbawamba ein "'Cos that's as close as he's ever gonna get" und den Refrain "Nothing ever burns down by itself / Every fire needs a little bit of help" folgen zu lassen. Eine packende und vor Dynamik strotzende Alternative Rock-Reggae-Hymne, verfeinert mit einem mitreißendem Basslauf und vollgepackt mit Bläsern.

Auch in der Folge bietet "Anarchy" ein cleveres Spiel mit Anspielungen. Der Synth-Pop-Track "Timebomb" etwa zitiert im Refrain Buffalo Springfields "For What It's Worth", findet aber einen ganz eigenen Ansatz. "Georgina" bezieht sich auf die schwarze Film-Komödie "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover", die darin gipfelt, wie die von Helen Mirren gespielte Georgina ihren gewalttätigen Ehemann dazu zwingt, ihren in seinem Auftrag ermordeten Liebhaber zu schnabulieren. Was würde musikalisch besser dazu passen als eine hübsche 1950er-Ballade inklusive Shalalas? In "Love Me" findet sich zu einem "One Tree Hill"-Sample ("The Joshua Tree") ein gar nicht mal so gut versteckter Bono-Diss.

Das zurückgenommen arrangierte Folk-Lied "Homophobia" klingt in Zeiten, in denen Homophobie und Transphobie in ihrer hässlichsten Form zunehmend wieder in unserer Mitte ankommen, besonders aktuell, bitter und traurig. "Up behind the bus-stop in the toilets off the street / There are traces of a killing on the floor beneath your feet / Mixed in with the piss and beer are bloodstains on the floor / From the boy who got his head kicked in a night or two before / Homophobia - the worst disease / You can't love who you want to love in times like these / ... / For every death the virus gets more deadly than before." Für den Single-Release bekam der Song einen Dance-Remix inklusive eines queeren Chors der Sisters of Perpetual Indulgence verpasst, der aber nicht die Intensität der Album-Version erreicht.

"Mouthful Of Shit" bietet eine Art aggressiven Madchester-Sound und verbindet diesen mit den wohl zornigsten Lyrics das Albums. Was etwas bedeutet: eine vor Wut schnaubende Abrechnung mit der Verlogenheit der Politiker, durch die Nobacon nur so geifert. Dessen "Can't hear 'cos your mouth's full of shit" ergänzt Nutter mit engelsgleicher Stimme, die kaum unschuldiger klingen könnte: "You think you're god's gift / You're liar / I wouldn't piss on you if you were on fire."

Für den Antifa-Hit "Enough Is Enough" taten sich Chumbawamba mit dem britischen Hip Hop-Act Credit To The Nation zusammen. Ein vom ersten Moment an fesselnder Reggae Fusion-Track in den Händen von MC Fusion. Gnadenlos unverblümt in seiner Aussage, stellt er sich gegen die Faschisten dieser Welt. Als wäre all dies nicht genug, frisst sich der Refrain auf ewig ins Hirn. Als die FPÖ 2000 in Österreich an die Regierung kam, nahmen Chumbawamba eine neue Version auf und verschenkten CDs damit auf ihren Konzerten. Bis heute lässt sie sich auf ihrer Homepage herunterladen.

Derweil sorgte das Album-Cover in einer sich mehr und mehr sexualisierenden Welt für einen Skandal und unzählige laute "Iiiiihhhhhhs". Viele Läden weigerten sich schlichtweg, den Longplayer zu verkaufen. Einfach nur, weil nicht wie üblich die Sexualität, sondern einmal das Resultat gezeigt wurde. Auf den Streaming-Diensten finden sich heute stattdessen meist ein paar romantische Blümchen.

Die Direktheit in Chumbawambas Texten trifft auf "Anarchy" auf eines der interessantesten und vielschichtigsten Alben der Dekade. Bei der immensen Hit-Dichte fraß sich die Anarchie in jede Note ihrer Musik. Das Erschreckende bleibt aber, dass sich an der Relevanz des Albums bis heute nichts geändert hat. Dass sich an der Relevanz von Chumbawamba wohl nie etwas ändern wird. Sie trennten sich 2012, dabei bräuchten wir sie heute noch dringender als einst.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Give The Anarchist A Cigarette
  2. 2. Timebomb
  3. 3. Homophobia
  4. 4. On Being Pushed
  5. 5. Heaven/Hell
  6. 6. Love Me
  7. 7. Georgina
  8. 8. Doh!
  9. 9. Blackpool Rock
  10. 10. This Year's Thing
  11. 11. Mouthful Of Shit
  12. 12. Never Do What You Are Told
  13. 13. Rad Dog
  14. 14. Enough Is Enough
  15. 15. Rage

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1 Kommentar

  • Vor 2 Jahren

    "Timebomb" hat eine unvergleichliche Energie. "Swingin' With Raymond", die nächste Platte, ist auf vielen Ebenen noch interessanter und ein witziger Kontrast zwischen A- und B-Seite mit ebenfalls einem "iiiiiiih"-Artwork. Musikalisch und textlich zeigt "Anarchy" noch lang nicht alles, was Chumbawamba drauf hatten, und auch "Tubthumper" hat nicht nur Smash, sondern mit "Outsider" sein eigenes "Timebomb"....