laut.de-Kritik
Jeder eingebildete Kranke wird aus dem Bett hüpfen ...
Review von Jasmin LützDie rockigen Männer in den weißen Kitteln sind endlich wieder im musikalischen Hospital eingetroffen. Clinic zogen sich für gut zwei Jahre in ihre dunklen Versuchsräume zurück. Ab sofort ist ein neues Heilmittel gegen herbstliche Depressionen, mitten im Sommer, legal zu erwerben. "Winchester Cathedral" nennt sich die aktuelle Wunderpille. Die ungewöhnliche Mischung aus Punk- und Jazzmelodien überzeugte schon 2002 mit "Walking With Thee" jeden Krankenhaus-Besucher.
War man anfangs vielleicht noch der Meinung, dass man das nicht mehr toppen kann, irrt sich so mancher Clinic-Patient. Perfektionismus bis zum letzten Song: daran arbeitete das Quartett intensiv und ließ sich im Versuchslabor ein Jahr mehr Zeit. Ursprünglich sollte die neue Wirkungsstätte "Winchester Cathedral" bereits 2003 erscheinen.
Zu Beginn hypnotisieren Leadsänger Ade Blackburn und seine Kollegen mit den pulsierenden Tönen einer Herzmaschine, die wiederbelebend in den ersten schwungvollen Song "Country Mile" übergeht. Das Herz pocht weiter bei jedem Pianoanschlag, und die Klarinette begleitet einsam "Circle Of Fifths". Den Mundschutz scheint der Sänger auch im Studio nicht abzunehmen, er nuschelt die Texte nur noch intensiver ins Mikro. Und wieder mal ist die wunderbare Melodica das Hauptwerkzeug von Oberarzt Blackburn.
Mit Clinic erleben wir erneut eine Achterbahnfahrt durch sämtliche Musikrichtungen, von Irish Folk Pub-Klängen über Klezmer-Klarinetten-Gebläse und jazzige Walzer-Rhythmen bis zum guten, alten Rock'n'Roll. "Home" lässt einen kurz die Schweißtropfen auf der Stirn trocknen, bevor wir mit "WDYYB" den vollen Garagen-Punkrock-Tritt kassieren. Sensationell, eine wilde Mischung, die den Magen schon mal etwas reizen kann. Jedoch führt das Kribbeln keineswegs zum Erbrechen. Im Gegenteil, die Körperorgane pogen im Operationssaal der englischen Mundschutzgang.
Das Stroboskoblicht brennt exstatisch mit "The Majestic #2". Mit mystischen Melodien, die auch aus Island importiert sein könnten (Falstaff) gleiten wir direkt in die Welt der Klezmer Musik. Im "August" tanzt die Klarinette auf jeder Hochzeit und fordert zum Walzer auf. 1-2-3, 1-2-3, 1-2-3...
Zum Finale werden die Finger noch einmal ordentlich strapaziert. Ein instrumentaler Höhepunkt, der die klinische Operation erfolgreicher nicht beenden könnte. Popguru John Peel dürfte mal wieder von diesem ohrenschonenden Musikcocktail begeistert sein. Und jeder eingebildete Kranke wird aus dem Bett hüpfen und die englische Meisterdroge genüsslich und vergnügt zu sich nehmen. Täglich, stündlich, so oft es nur geht. Thank You!
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