laut.de-Kritik
Ein Colter für alle Fälle.
Review von Giuliano BenassiWahnsinn, diese Stimme. Was muss dieser Mann schon alles erlebt haben, im Guten und vor allem im Schlechten, um soviel Wehmut, Weisheit und Tradition in Gesang und Gitarrenbegleitung zu legen? Wie sich herausstellt: nicht viel. Er ist gerade mal 21 Jahre alt.
In der Mitte Kanadas in Saskatchewan aufgewachsen, also in the middle of fucking nowhere, hat Colter Wall seine Jugend damit verbracht, tagsüber Baumwolle zu pflücken und nachts an einem kommodengroßen Radio zu kurbeln, um Hank Williams, Steve Earle, Robert Johnson und Johnny Cash zu lauschen.
Nur ein Witz, natürlich: Vermutlich hat er sich, angesichts seines Alters seine Musikkenntnisse auf YouTube und Spotify zusammengeklickt. Aber er hat schnell gelernt, der Bursche. Mit geschickten Fingern begleitet er sich auf der Akustikgitarre und wählt Arrangements, die mit unauffälligen Schlagzeug und Bass sowie einer jaulenden Pedal-Steele auskommen. So bringt er auf seinem Debüt sein tiefes, ruhiges Organ perfekt zur Geltung.
Die kurzen Geschichten, die er erzählt, passen bestens. Im Opener spielt er einen Landstreicher, der in einer kalten, verschneiten Nacht von einem Polizisten angehalten wird. "He asked me for my name and where I dwell / I just looked him in the eye / And sang 'Blue Yodel Number 9'/ He didn't catch the reference, I could tell." Das Lied, das er singt, stammt von Country-Ikone Jimmie Rodgers, der es in den 1920er Jahren aufnahm: "Standin' on the corner I didn't mean no harm / Along come a police he took me by the arm", so die erste Strophe.
Als ihn der Polizist auslacht und meint, er besitze wohl nichts, denkt sich der Landstreicher: "Well, I got my health / My John B Stetson / Got a bottle full of baby's bluebird wine / And I left my stash / Somewhere down in Preston / Along with thirteen silver dollars and my mind." Alles bestens, also.
Welches Preston er meint, bleibt offen, schließlich gibt es Ortschaften dieses Namens im gesamten englischsprachigen Raum. Sicher dagegen, dass das Album mit Jim Cobb in Nashville entstanden ist. Der Produzent verantwortete zwei Platten, die 2015 Grammys für das beste Americana- und das beste Country-Album ernteten: eindeutig eine gute Wahl.
"Die Geschichten, die ich erzähle, habe ich tatsächlich erlebt", erklärt Wall. Da wären: großer Herzschmerz ("Some cruel nightly cycle / Leaves me cryin' on a motel floor / I don't cry for you / Anymore", "Codeine Dream"), der Drang zu reisen ("Pop another pill, hop another train / Tell my brothers and my sisters that it's keeping me sane", "Motorcycle") und weitere Verneigungen vor vergangenen Größen, er covert Townes Van Zandts "Snake Mountain Blues" und Bobby Helms' "Fraulein".
Eine Murder Ballad fehlt selbstverständlich auch nicht. "Kate McCannon" ist mit langen schwarzen Haaren und grünen Augen die schönste Frau weit und breit, doch als der Erzähler sie mit einem anderen erwischt, setzt er ihrem Leben mit drei Kugeln ein Ende.
Auch wenn letztere Geschichte hoffentlich erfunden ist: Einen Colt für alle Fälle hat Colter offenbar im Gepäck. Und seine Gitarre. Ein starkes Album, das Lust auf viel, viel mehr macht. Kris Kristofferson hat sich noch nie so gut angehört.
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