laut.de-Kritik

Großes, kiffköpfiges Kino für Hip Hop-Nerds.

Review von

Für alle, die "Deltron 3030" nicht kennen: Habt ihr euch auch schon einmal ein Album gewünscht, das sich anfühlt, als hätte man den Rap-Part auf "Clint Eastwood" von den Gorillaz auf Albumlänge gestreckt? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich habt ihr gedacht, dass der Kerl wohl auch Soloalben gemacht hat. Aber: Dass der Kerl in einer Hip Hop-Supergroup ein ganzes Album mit der gleichen konzeptuellen Klasse gemacht hat? Ein Sci-Fi-Operetten-Album, das irgendwo in der afrofuturistischen Tradition zwischen Parliament und Janelle Monae steht, dabei aber Visuals von Ghost In The Shell bis Metropolis evoziert und den kreativen Funken für Projekte wie die Gorillaz überhaupt erst geschlagen hat?!

Wenn man sich an die Existenz von einem Album wie "Deltron 3030" einmal gewohnt hat, übersieht man leicht, was für ein exorbitanter Ausreißer in die querköpfige Großartigkeit die Zusammenkunft von Del Tha Funkee Homosapien am Mic, Dan The Automator an den Beats und Kid Koala an den Turntables eigentlich war. Ja, es hat den Status als Untergrundklassiker. Ja, es ist fester Bestandteil des Kanons aller nerdigen Rucksackrapper. Aber trotz dieser festen Liebe, die es erhält, könnte es doch irgendwie underrated sein. Höre ich "Deltron 3030" einmal im Jahr wieder konzentriert durch, kommen mir jedes Mal wieder die Freudentränen kommen, dass es dieses Album wirklich gibt.

Fangen wir mit einem kleinen Elefanten im Raum an: Konzeptalbum, hm? Wenn wir ehrlich sind, dann hat das Album selbst bei den großen Storyteller-Platten als Medium eher einen durchwachsenen Track-Record damit, so wirklich diegetisch und konsequent Geschichten zu erzählen. Besonders Alben, die sich selbst als Filme missverstehen, fallen wenn man ehrlich ist, öfters einmal gerne frontal auf die Fresse.

Erwartet also auch von "Deltron 3030" kein in Kapitel eingegliedertes Erzählwerk mit Charakterbogen, Höhepunkt, retardierendem Moment und Schlussteil. Das Konzept lautet, dass Del, hier als Deltron mit zwei wonky Sidekicks mit umständlichen Fake-Namen, unterwegs ist durch die zur Dystopie gewordene Zukunft im Jahr 3030. Alle wollen nun Rapper werden, alle wollen nun Beats machen, aber in einer Welt, beherrscht von Microsoft und anderen Tech-Oligarchen bedeutet das nicht mehr viel, denn trotz omnipräsentem Genre ist da immer weniger Herz und Seele im Handwerk. Wartet - ich spüre einen Oldschooler in der hinteren Reihe der Präsentation seine Hand hektisch heben, um uns wissen zu lassen, dass wir genau in dieser Gegenwart leben. Ich lasse den Beitrag unkommentiert.

Was nun also beginnt, sind: Intergalaktische Space-Cyber-Rap-Battles! Weniger im Sinne, dass wir erklärt bekommen, wen Del warum battlet. Wir hören ihn einfach nur wack MCs zersieben. Aber: Im Weltall! Und das tut ja auch schon einmal etwas. Das Worldbuilding zimmert sich eher durch die wirr in die Tracks geworfenen Sci-Fi-Fragmente. Kritik via Space-Faschismus mag nicht die originellste der Welt sein, aber schien sich ja bislang auch nicht unbedingt zu widerlegen. Aber es türmen sich doch von Track zu Track einschlägige Bilder auf, mal beklemmend, mal komplett drüber.

Entsprechend muss man sich "Deltron 3030" auch weniger wie eine ernste, große Oper mit 1984-Level-Gesellschaftskritik vorstellen. Bildet man die erzählten Szenen vor dem inneren Auge ab, würden sie es verdienen, im Ren & Stimpy-Cartoon-Look abgebildet zu werden. Oder im Dragonball-Look. Del wird immer wieder zum Jinzo, telekinetisiert seinen Battle-Gegnern multikollateraliterative Psy-Bars direkt ins Stammhirm, und der Schuppen fliegt auseinander, bevor er mit dem Hoverboard vor der Explosion davonfliegt. Das ist zumindest der Vibe. Und jeder, der mal vierzehn war, kann bezeugen, dass das die coolste Sache überhaupt ist.

Außerdem kommen im Kontext dessen einfach unglaublich gute Songs heraus. Der eröffnende Sechsminüter "3030" baut schon unglaublich Stimmung auf. Del ist auf seinem starken Game, er rappt ja immer ein bisschen, als wäre man nach fünf Joints in der Videospiel-Arcade eingeschlafen. Aber es ist Dan The Automator, der macht, dass "Deltron 3030" nicht im Klamauk versinkt. Der Beat hier? Unglaublich. Der könnte auch das Herzstück des Cowboy Bebop-Soundtracks sein.

Generell gilt ja für seine Formel: Dustry Drumloops gegen ein atmosphärisch-futuristisches Sample, dann in der Hook noch ein Sample obendrauf, das die Stimmung ein bisschen öffnet und kontrastiert. Auf "3030" ist es ein gothischer Chor, der die Soundkulisse gleichzeitig mit Streichern für den Cowboy-Standoff betritt. Es passiert so viel gleichzeitig, ohne dass das Instrumental auch nur eine Sekunde überladen klingt. Es ist ein umwerfendes Gesamtprodukt des Mixing und der Balance, das sich - und ich benutze hier ohne Not dieses sehr abgedroschene Wort - absolut episch anfühlt.

Aber kein Song bringt diese Formel zu beachtlicherer Frucht als das unglaubliche "Madness": Hier flippt Dan einen Track der kanadischen Psych-Folker der Daisy Family für eine immer wiederholte Line. Die geht "I'm caught in the grip of the city / Madness" - und beschwört so gekonnt dieses Bild von Neo-Tokyo-Skylines wie in Akira oder Ghost In The Shell herauf. Del holt indes den Überlebenskampf aus dem High-Concept-Film in die Wirklichkeit zurück: "If I had to describe the way I survive its like vice squeezin' / The reason I'm black and still breathin'". Hier passiert etwas sehr Spannendes - man kann den Track nämlich sowohl als Sci-Fi-Overtüre, als auch als ganz normalen atmosphärischen Conscious-Rap-Banger hören. Und in beiden Fällen ist er absolut brillant.

"Battlesong" ist noch ein hervorhebenswertes Stück abstraker Hip Hop, der wirklich einen Atompunk-Cypherkreis vor dem inneren Auge heraufbeschwört. "Positive Contact" hat einen wunderschönen Grove. Ein eher unterschätztes Highlight indes ist "Time Keeps On Slipping" mit einer unglaublich schönen, melancholischen Stimmung - mich erinnert das überraschend stark an die regentagigen Songs, die Dilla für The Pharcyde produziert hat.

Der eine, bis heute kontroverse Punkt: Die Skits. Es sind eine ganze Handvoll im Laufe des Albums, alle sind ganz okay. Manche Leute sagen, man solle sie einfach skippen, aber ich persönlich habe das Gefühl, dann würde etwas fehlen. Es ist aber schwer zu leugnen, dass sie in der Gesamtsumme schon ein bisschen auf den Sack gehen können. "Deltron 3030" hat nicht diese wunderschöne, 100% genau richtige Balance gefunden, die zum Beispiel DOOM und Madlib auf "Madvillainy" mit den Skits gefunden haben, wo man ein Verrückter sein müsste, um sie skippen zu wollen. Aber im Kontext der sonst dargebotenen Großartigkeit sind das auch höchstens Abzüge in der B-Note.

Aber ja, apropos DOOM: Ich glaube ehrlich, dass "Deltron 3030" in einer Reihe mit "MM..FOOD" oder "Enter The Wu-Tang (36 Chambers)" stehen sollte. Es ist eine wunderschöne, nerdige, kiffköpfige Collage geiler Genre-Fiktion. Es entpuppt sich keine richtige Storyline daraus, weil es gar nicht muss. Hört das Album, schließt eure Augen und füllt die Mangapanels selbst, wenn Del euch genau die richtige Menge Eckdaten über das vor uns liegende Dystopia gibt. Und dann bleibt euch nur noch, zufrieden zu kichern, während der Film vor euren Augen flimmert. Glaubt mir, kaum ein Album kann so viel Welt bauen und so viel Szene herstellen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. State Of The Nation (feat. Damon Albarn)
  2. 2. 3030
  3. 3. The Fantabulous Rap Extravaganza (feat. Prince Paul)
  4. 4. Things You Can Do
  5. 5. Positive Contact
  6. 6. St. Catherine St.
  7. 7. Virus
  8. 8. Upgrade (A Brymar College Course)
  9. 9. New Coke
  10. 10. Mastermind
  11. 11. National Movie Review
  12. 12. Madness
  13. 13. Meet Cleofis Randolph The Patriarch
  14. 14. Time Keeps On Slipping (feat. Damon Albarn)
  15. 15. The News (A Wholly Owned Subsidiary Of Microsoft, Inc.)
  16. 16. Turbulence
  17. 17. The Fantabulous Rap Extravaganza Part II
  18. 18. Battlesong
  19. 19. Love Story
  20. 20. Memory Loss (feat. Sean Lennon)
  21. 21. The Assman 640 Speaks (feat. Damon Albarn)
  22. 22. Positive Contact (Charlie Clouser Remix)
  23. 23. Turbulence (Mark Bell Remix)
  24. 24. Positive Contact (Mario C Remix)

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